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Das Kursbuch wird 50 – Warum Kritik das größte Geschenk zum Geburtstag ist

Auch wenn es – bei genauer Chronik – keine 50 Jahre sind, weil es Unter­brechungen gab, erschien das erste Kursbuch 1965 und bietet Anlass, das Magazin zu feiern. Seit 2012 erscheint es nun beim Hamburger Murmann-Verlag, der keine Mühe scheut, an die legen­dären – oder wie sie Heinz Bude in seiner kri­tischen Würdigung am 10. Juni im Miramar-Haus nannte – „heroischen Tage des Kursbuches“ anzuschließen. Hero­isch war, sich zu einer teil­nehmenden Kritik an Gesell­schaft zu be­kennen, Position zu beziehen und als Experiment mit Aus­wirkun­gen auf die Lebens­welt der jungen Bundes­republik zu verstehen. Bude geht so weit, zu behaupten, dass es die junge (Nach-)Kriegs­generation war (die „Flak­helfer“, die 1945 mit 15 Jahren an der Heimatfront auf ver­lorenem Posten standen, wie z.B. Enzens­berger, aber auch Haber­mas), die die Thesen der 68’er formuliert und sich die APO-Be­wegung als Sprachrohr angeeignet hat. Auf seinen Vorschlag, dass wir als Boomer-Generation nun Ähnliches mit der Generation Y (X oder Z) versuchen sollten, komme ich zurück.

Bude empfiehlt dem Kursbuch einen „ethischen Experimentalismus“, um das offen­sichtliche Theorievakuum vielleicht nicht ganz zu füllen, aber wieder deutlich zu ver­kleinern. Armin Nassehi, Soziologe aus München und Mit-Herausgeber neben Peter Felixberger, fragte in der Diskussionsrunde zu Recht, warum wir es gesellschaftlich nicht mehr wagen, das Ganze zu denken? Budes sozialpsycholo­gische Antwort: Die Kriegs­generation wollte ver­gessen und verdrängte die schmerzlichen Er­fahrungen des III. Reichs mit einem kategorischen Schlussstrich: „Schlimmer kann es nicht kommen“ – totale Kapitulation und der schrecklich­ste Völkermord aller Zeiten. Nachkriegsdeutsch­land verfolgte deshalb das geschichtslose Projekt „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Gesellschaft“ – und das Kurs­buch gab ab 1965 für die außerparlamentarische Opposition Richtung und Inhalt vor.

Auch ohne Sozialpsychologie und Flakhelfer-These trifft die Diag­nose: in der BR Deutschland sollte es eine durch Theorie auf­geladene Gesellschaft ge­ben, die ge­schichts­vergessen einfach an jene demokratischen Werte an­schloss, die als allgemein gültig proklamiert wurden. Das war jener ‚Verfassungspatriotis­mus‘, der sich auf univer­salistische Prinzipien und nicht auf historische Kontingenz berief. Diese Theorie­gläubig­keit erscheint heute wie aus der Zeit gefallen. Dies zeigt sich auch darin, wie befremdet einige Autoren des aktu­ellen Kursbuches 182 (Das Kursbuch. Wozu?) auf ihre eigenen Texte rea­gierten, als sie gebeten wurden, diese „weiterzuschreiben“. Als kämen sie aus einer anderen Welt, in der man Realitäten noch durch Worte her­bei­reden konnte.

Aber Bude weist zu Recht darauf hin, dass es eine „ethische Gram­matik“ gibt, und sich das Kursbuch um eine solche Sprache bemühte und wieder bemühen sollte. Es fehlt ja nicht an Beo­bachter­n – im Gegen­teil, es sind zu viele, die zu oft in Diskursen nicht zur Klärung, sondern nur zur Steigerung der Kom­plexität beitragen. Natürlich ist es richtig, auf die Kontingenz von Unterscheidun­gen hinzuweisen, aber – und da wurde Bude nicht müde zu betonen – das hat für unsere eigene Lebens­führung und die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ keine unmittelbare Relevanz.

Gesellschaftliche Praxis braucht auch die Behauptung, das moralische Argument und Antworten auf die Frage, was richtig oder falsch ist. Natürlich darf eine öffentliche De­batte diese Fragen nicht naiv beantworten und sich auch nicht „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>blind“ normativen Prin­zipien anvertrauen.

Aber etwas mehr Arbeit am Begriff würde dem Kurs­buch gut tun, um wieder stärker mit den Lebenswelten verschränkt zu sein. Da hilft Nassehis Hinweis auf ‚Ge­lassenheit als Erkenntnismittel‘ nur bedingt. In einigen Fragen braucht diese Gesell­schaft mehr davon (um z.B. mit Migrationsfragen unaufgeregter umzugehen), aber in vielen anderen Fra­gen grenzt Gelassenheit an Aus­rede, sich nicht weiter mit gesell­schaftlichen Themen befassen zu müssen bzw. in der Beobachterecke zu bleiben oder noch eine weitere Betrachtungsebene einzuziehen. Darin ist das Kurs­buch stark, es liest sich gut, bleibt aber ohne Konsequenz: der Kontingenz wird außer Kom­plexitäts­kon­templation nichts entgegnet. Dann kann sich jeder Lesende wieder in seinen eigenen Kosmos zurück­ziehen und das große Ganze sein lassen. Mein Fazit lautet: Die Distanz ist zu groß. Nur über die Gesellschaft gebeugt zu sein und mal gelehrig mal gelas­sen zu kommentieren, greift für das neue Kursbuch zu kurz. Es muss raus aus der selbst gebauten Vielfalts­falle. Zum Ge­burts­tag wünsche ich mir mehr intervenierende Gesell­schafts­kritik.

Wie das gehen kann, regt eine Idee des ausgezeich­neten Abends, der als kleiner Fest­akt für ein großes Magazin fungierte, an. Bude zitierte aktu­elle empirische Studien über die Generation X/Y/Z, die belegen, dass es der Jugend um Ver­bindlichkeit in der Ver­netzung geht. Natürlich nicht in jedem „link or like“ der sozialen Netze, aber sie wollen auch aus wichtigen Verbindungen wirkliche Ver­pflich­tungen machen. Entstehen aus diesen neuen sozialen Formaten des Wir-Gefühls, das wir auch Gesellschaft nennen können, neue Lebensformen? Wie könnte sich dieses neue soziale Miteinander weiter entwickeln? Und können wir Boomer-Generation, so Budes Vorschlag, jetzt die Jugend zu unserem Sprachrohr machen, um die Frage nach einem guten Leben wieder mit guten Theorien zu verbinden? Nicht auf einen Schlag und auch nicht mit ideologi­sch vernagelten Ideen, aber mit einem kritischen Denken, das sich wieder erlaubt, Perspek­tive mit Po­sition zu verknüpfen und einen Standpunkt einzunehmen.

Das Kursbuch wäre zurück an den Wurzeln und wieder mitten im Diskurs um Indivi­dualität und Gesell­schaft, der nicht darin endet, dass wir unsere Unterscheidun­gen problematisieren, sondern da­zu führt, dass wir klug streiten. Klug meint, auf die Frage, wie wir unser Leben führen wollen, Antworten zu finden, die für uns als Einzelne Sinn machen, ohne die ge­sellschaft­liche Bedeutung außer Acht zu lassen. Im Gegen­teil, was Sinn macht, muss sich wie­der viel mehr an der Frage „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Wozu bist du gut?“, dem Gemeinwohl, orientieren und darf nicht vor­dergründig auf dem Bazar der Parti­kular­interessen verhandelt werden. Es strengt an, gerechtfertigte Ansprüche von aufmerk­samkeitsheischenden Er­regungs­zuständen zu unterscheiden, – was unseren Medien meines Erachtens immer weniger gelingt -, aber es lohnt sich; denn in einer individu­alisierten Gesellschaft ist nichts dringender als kluge Antworten auf die Frage nach der richtigen Lebensführung. Erste These ist: Un­sere Selbstverständigung darüber, wie wir leben wollen, ist von der Frage nach einer guten Gesellschaft zu unterscheiden, aber nicht zu trennen.

Wer sich um Differenz bemüht, steigert Komplexität. Das haben wir in unseren öffent­lichen Diskursen zur Genüge strapaziert. Nun wäre es an der Zeit, das Verbindende in der Vielzahl der Möglichkeiten zu suchen und gemeinsam zu erarbeiten. Dafür braucht es intellektuelle Institutionen, wie das Kursbuch eine sein könnte. Bude erzählte am Ende von einer Geburtstagsfeier eines Politikers, der nicht mehr aktiv ist. Dieser fragte ihn, warum es in unserer Gesellschaft so wenig gemeinschaftliche Zuversicht gebe? Ein Teil der bitteren Wahrheit liegt darin, dass wir uns um das große Ganze nicht küm­mern wollen, weil es mühsam ist, sondern lieber in unseren kleinen Par­zellen des eigenen Lebens bleiben – ganz so, als ob das Private nicht politisch wäre.

Wie kluge Wege aus den einzelnen Kontexten wieder hinausführen und auf ein Ge­meinsames hinweisen, das könnte das Kursbuch wort­gewandt erörtern und bildge­waltig zeigen – und so neue gesellschaftliche Zuversicht an­regen. Das wäre ein Geschenk.

Stefan Wolf

Der Autor hatte Gelegenheit am 10. Juni an der Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre Kursbuch“ im Mur­mann-Verlag in Hamburg teilzu­nehmen. Nach einem Vortrag von Prof. Dr. H. Bude zum Thema „Schön neutral. Die heroischen und die weniger heroischen Tage des Kursbuchs“ gab es ein Podiums­gespräch zwischen Prof. Bude und den beiden Herausgebern Prof. Dr. A. Nassehi und Dr. P. Felix­berger. www.kursbuch-online.de

Über den Autor

Dr. Stefan Wolf

Jahrgang 1963, ist promovierter Philosoph und hat an der Uni Bamberg Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. 1995 kam er zur EXPO 2000 GmbH und hat im Themenpark und der Kommunikation für die Weltausstellung in Hannover gearbeitet. Nach Tätigkeiten für die Prognos AG in Basel und das Bildungshaus in Hannover ist er seit 2002 bei der Volkswagen AG. Anfangs war er verantwortlich für die AutoUni, die Corporate University des Konzerns. Inzwischen ist er in der Produktstrategie für VW Nutzfahrzeuge. Seit 2007 lehrt er Sozialwissenschaften und Zukunftsforschung am Institut für Transportation Design (ITD) der HBK in Braunschweig. Dr. Stefan Wolf Stefan.wolf@volkswagen.de

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