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„Der leere Ort“ Zum paradoxen Lebensgefühl in der Postdemokratie

Am Ende der Moderne

Begriffe haben ihre Zeit. Wortbedeutungen entstehen und vergehen. Das spüren wir alle am Ende der Moderne in besonderem Maß. Wir erleben, dass die Sprache einer ganzen Gene­ration, ja einer Epoche, verloren geht: uns kommt das Vokabular der politischen Auf­klärung abhanden, also jene Begriffe, wie ‚Gleichheit‘, ‚Selbstbestimmung‘, ‚Mündigkeit‘, ‚Teilhabe‘, die wir wie selbstverständlich in unser Selbstverständnis übernommen haben. Das „Projekt der Moderne“ (Habermas) verliert aber nicht nur deshalb an Bedeutung, weil es der Post­moderne gelungen ist, die großen Rahmenerzählungen zu dekonstruieren, sondern auch weil die Begriffe nicht an unser Lebensgefühl anschließen. Es ergibt keinen Sinn, wenn wir versuchen, sie mit unserer gegenwärtigen Lebenswelt zu verknüpfen. Wer den Be­griffen das Wort redet, wird entweder als naiver Gutmensch entlarvt, der nichts von der harten Realität kapiert, oder die Widersprüche zwischen politischem Ideal und täglichem Tun treten so offen zu Tage, dass sie nicht länger verhandelbar, also auch kaum aus­zuhalten sind. Der öffent­liche Diskurs kommt zum Erliegen.

Schließlich sorgt der letzte Schuss Pragmatismus dafür, dass wir uns in das Gegebene fügen und nur noch uns, aber nicht mehr die Verhältnisse ändern wollen. Dann schlägt die Stunde der Coaches und Selbstoptimierer (bis hin zum ‚Self-Tracking‘), die uns ver­sichern dass wir selbst schuld sind, wenn sich unser Leben nicht gut anfühlt und uns kaum etwas gelingt. Innenorientierung (Schulze) ist angesagt: Wenn wir das Ganze schon nicht ver­stehen, sollen wir wenigstens über uns ver­fügen. Dadurch verlagern sich die Konflikte, die eigentlich gesellschaftlich ausge­tragen werden müssten, ins Ich als dem „leeren Ort der Identität“.

C. Lefort hat die Demokratie als „leeren Ort der Macht“ bezeichnet und weist darauf hin, dass wir als politisch Teilhabende diese Leere mit gemeinsamen Werten füllen müssen. Eine frei­heitlich-demokratische Grundordnung rekurriert auf aufgeklärte Individuen, autonome Sub­jekte und mündige Bürger. Es gibt einen engen Bezug zwischen dieser Form von Demo­kratie und unserer Subjektivität, weil die politischen Freiheitsrechte erst jene Teilhabe er­möglichen, in der wir uns selbst verwirklichen können, also eine Identität bilden. Somit ist mit der Form, in der wir zusammenleben (wollen), auch die Form, wie jeder Einzelne von sich und über andere denkt, im Kern betroffen, weil wir das „zoon politikon“, das soziale Wesen sind. Individualität setzt Inklusion voraus und wird nur dadurch „adressierbar“.  

Fragil, fragmentiert, flexibel und fluid

Charim nennt im Artikel der TAZ vom 18./19.10.2014 drei kennzeichnende Begriffe für das neue Lebensgefühl in der Postdemokratie. Unsere Identitäten seien fragmen­tiert, flexibel und fluid – Adjektive, die schon Bauman („Li­quid Modernity“) in seiner Gegenwartsanalyse nennt. Ich füge noch „fragil“ hinzu und würde Parallelen zwischen politischer und persön­licher Lebens­form ziehen: Unsere politische Ord­nung ist fragil; d.h. sie steht auf keinem unumstöß­lichen Fundament, das nie wieder revan­chistisch revidiert werden könnte. Darauf hat auch Böckenförde hingewiesen: Die Demo­kratie fußt auf Voraus­setzun­gen, die sie selbst weder begründen noch gewährleisten kann. Wir müssen sie immer wieder neu wollen und dürfen sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Diese Fragilität spüren wir auch in unserem eigenen Leben (Beck 2001), das sich als „sinn- und grundlos“ (Bolz) zeigt, weil sich keine erfahrbare Weltanschauung findet, aus der heraus sich alles logisch ent­wickeln und vernünftig erzählen lässt.  

Enttäuschende Zusammenhänge

Diese politische wie persönliche Erfahrung, dass alles aus gleich guten Grün­den auch ganz anders sein könnte, somit unbestimmt und offen ist, sorgt dafür, dass wir uns inzwischen lieber in einzelnen Kontexten aufhalten als in großen Zusammenhängen zu denken. Dadurch erleben wir sowohl die Gesellschaft als auch unsere eigenes Leben als fragmentiert. Lösun­gen, die in einem Mikrokosmos funktionieren, lassen sich nicht übertragen. Handlungs­weisen widersprechen sich, sobald wir einen Bereich verlassen – unsere multiple Persönlich­keit aber schwindelt sich über die Paradoxien hinweg oder hält sie einfach nicht aus und wech­selt das Wording. So haben wir kein Problem gegen die unmenschlichen Arbeits­bedingun­gen in der Textilbranche zu demon­strieren und dann für den Abend das günstige Outfit beim Discounter als „Schnäppchen“ zu kaufen. Wir protestieren gegen die Quälereien der Massentier­haltung, schaffen es aber nicht, nur noch einmal die Woche Fleisch zu essen.

Auf alles reagieren wir mit der sprichwörtlichen Flexibilität, die auch gesell­schaftlich in höch­stem Maß von uns gefordert wird. Nichts anderes bedeutet die Formel von der „Beschäfti­gungs­fähigkeit“, die es gilt immer und überall in der globalen Ökonomie auf­recht zu erhalten. Arbeits- und Konsumwelt wollen von uns diese schnelle Anpassung an sich verändernde Welten, in denen wir aber letztlich immer nur in einer Form antworten sol­len: marktförmig arbeiten und konsumieren. Auch der politische Pragmatismus ist an Flexi­bilität kaum noch zu überbieten. Die Demokratie droht unpolitisch (Walter 2013) zu werden. Kurzsichtige Lösun­gen als „permanente Novellierungstätigkeit“ (Ismayr 2010) werden favorisiert, nur um ein Thema abgearbeitet oder eine Klientel bedient zu wissen. Das Gemeinwohl gerät aus dem Blick, weil es sich politisch auch nicht mehr argumentieren lässt. In fragmentierten Welten, in denen wir es uns in einzelnen Kon­texten bequem gemacht haben, können Zusammenhänge nur enttäuschen – sie her­zustellen verlangt offenbar zu viel.

Flüssige Lebensform

Wenn Überforderung droht, braucht es fließende Grenzen in beweglichen Strukturen, in denen nichts, auch wir nicht, wirklich festzumachen ist. Fluides Lebensgefühl empfinden wir, wenn wir im Internet surfen, uns immer zum nächsten Link bewegen können und im globalen Netz virtuelle Kontakte knüpfen. Fluid ist somit die Quersumme aus fragil, frag­mentiert und flexibel. Da wir uns in keiner politischen Ordnung mehr verorten wollen, als Mit­glieder einer pluralistischen Gesellschaft eher den Dissenz leben und partikularen Interessen folgen, die unsere Ver­schiedenartigkeit betonen, ist eine fluide Identität die beste Antwort auf die Ver­hältnisse, weil wir glauben, so noch eine Option in Händen zu halten (indem wir uns an­passen und beweg­lich sind). Zwar haben wir gelernt, das Leben in der Postdemokratie (Crouch) zu nehmen, aber wir verstehen es nicht. Die Metapher von der Fußgängerzone, in der wir uns auskennen, aber nicht mehr wissen, wo wir sind, beschreibt unser paradoxes Lebensgefühl sehr gut: wir folgen leichtfüßig der Pragmatik des Einkaufsbummels, handeln nicht wirklich, sondern las­sen uns treiben, tun aber so, als könnten wir entscheiden und hätten die Wahl. Mit etwas um­gehen zu können, bedeutet nicht, dem auch gerecht zu werden. Fluide Politik in der Analogie ist dann auch nur noch opportunistische Moderation, die Luhmanns These von der „Legitimation durch Verfahren“ parodiert.

Am Ende eines gesellschaftlichen Fort­schrittsdenkens, das maß­geblich politisch geprägt war, bleibt eine marktförmige Demokratie, die der vollständigen Ökonomisierung des öffentlichen Lebens den Boden bereitet. Luhmann formulierte seine systemtheoretische These zur Moderne, nicht zur Postdemo­kratie. Die Frage ist, worauf sich legitimierte Ver­fahren beziehen, wenn die freiheitliche Grundordnung zwar nicht zur Disposition gestellt wurde, in ihren politischen Institutionen aber ausgehöhlt wirkt.

Öffentliche Diskurse rekurrieren immer noch auf jene Begriffe, ohne sich zu bemühen, sie zeitgemäß zu fassen. Wohin dies führt, erkennen wir daran, dass Thesen der Moderne keinen Sinn mehr ergeben: „Individualität ist die Form, die sich nicht fügt!“ So wider­ständig dieser Satz gemeint war und so politisch er auch klingen mag, so wenig wirklich ist er in un­serer postdemokratischen Gesellschaft; denn gegen welche Form soll der Ein­zelne noch opponieren? In einer Zeit, in der es kein abweichendes Verhalten mehr gibt und Anders­artigkeit die Norm zu werden scheint, weil alle Aus­nahme sein möchten und niemand mehr den Regeln folgen will, ist Individualität nicht mehr die Form, die sich nicht fügt, sondern nur noch die Form, die sich nicht füllt.

Bürgerlichkeit neu denken

Unser soziales Zusammenleben sagt mehr über unsere persönliche Identität aus als wir wahrhaben wollen. Mag es die aufklärerische Moderne übertrieben und uns überfordert haben, uns in allem zu politischen Akteuren zu machen, die am öffentlichen Leben aktiv teilhaben und bereit sind, jeden Dis­kurs zu führen. Unsere pluralistische Demokratie droht diese politische Substanz restlos aufzu­brauchen und zehrt nur noch von einem Voka­bular, dem die ge­sellschaftliche Wirklichkeit immer weniger entspricht. Ob wir wollen oder nicht – wir müssen wieder Bürger werden, wenn wir Individuen sein wollen. Wer sich in (bezahlter) Arbeit sowie (kurzsichtigem) Kon­sum erschöpft und weiter keine verbindenden, nachhaltigen Ideen für das Zusammenleben von Vielen ent­wickelt (oder adä­quat revitali­siert), muss er­kennen, dass wir die Unverfüg­barkeit un­serer eigenen Identität nicht bewahren können. Wir sollten wieder lernen politisch zu han­deln, ‚Citoyen‘ im besten Sinn des Wortes werden, wenn wir unsere Individualität entfalten wollen. Nur wenn wir alle meinen, kann jeder an sich selbst denken. Das füllt den leeren Ort.

Stefan Wolf

Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.
Beck, Ulrich: Eigenes Leben, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001.
Böckenförde, Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967. Zitiert nach M. Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit, Vortragsmanuskript 2009.
Bolz, Norbert: Die Wirtschaft des Unsichtbaren, München 1999
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Rede zur Adorno-Preisverleihung Frankfurt 1980.
Ismayr, Wolfgang: Der deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012.
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M. 1969.
Walter/Michelsen (Hg.): Unpolitische Demokratie, Frankfurt a.M. 2013.

Über den Autor

Dr. Stefan Wolf

Jahrgang 1963, ist promovierter Philosoph und hat an der Uni Bamberg Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. 1995 kam er zur EXPO 2000 GmbH und hat im Themenpark und der Kommunikation für die Weltausstellung in Hannover gearbeitet. Nach Tätigkeiten für die Prognos AG in Basel und das Bildungshaus in Hannover ist er seit 2002 bei der Volkswagen AG. Anfangs war er verantwortlich für die AutoUni, die Corporate University des Konzerns. Inzwischen ist er in der Produktstrategie für VW Nutzfahrzeuge. Seit 2007 lehrt er Sozialwissenschaften und Zukunftsforschung am Institut für Transportation Design (ITD) der HBK in Braunschweig. Dr. Stefan Wolf Stefan.wolf@volkswagen.de

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