Dr. Arno Brandt
Pikettys Vermächtnis
23/11/2014
Was ist eigentlich das Faszinierende an Thomas Piketty, der mit seinem Buch „Capitalism in 21st Century“ seit Monaten die akademische Welt in Atem hält? Piketty hat es geschafft, die Frage der sozialen Ungleichheit in das Zentrum der gesellschaftspolitischen Debatte in den USA zu rücken. Vor ihm haben auch andere, wesentlich bekanntere Ökonomen, wie Joseph Stiglitz, den Versuch unternommen, die globale Ungleichheit mit ihren spezifischen amerikanischen Ausprägungen auf die politische Agenda zu rücken. Es vergeht kaum ein Blog, in dem nicht Paul Krugman und andere auf die verhängnisvollen Konsequenzen der Ungleichheit für Wirtschaft und Gesellschaft verweisen. Aber der französische Ökonom Thomas Piketty hat mit seiner schlichten Formel „r > g“ die Welt verzaubert und Meinungsführerschaft evoziert.
Was Thomas Piketty so spannend macht, ist sein Versuch, den systematischen Nachweis zu führen, dass der Kapitalismus systemisch Ungleichheit hervorruft. Es war seit Adam Smith immer der Anspruch der Verfechter einer „freien“ (kapitalistischen) Marktwirtschaft, dass mit der Dynamik der privaten Rendite auch die gesellschaftliche Rendite steigt. Wenn der Reichtum der Wenigen zunimmt, profitieren im Großen und Ganzen auch alle Gesellschaftsmitglieder von diesem Tideneffekt. Die Flut lässt das Boot, in dem alle sitzen, in dieser Vorstellung steigen. Dieses Deutungsmuster hat sich an den kapitalistischen Realitäten gründlich blamiert; die Schere zwischen arm und reich ist in Wirklichkeit immer größer geworden; zumindest in den USA.
Wenn jetzt Journalisten oder Ökonomen auf Widersprüche im Werk von Piketty verweisen, ist daran grundsätzlich nichts einzuwenden. Es wäre ja mehr als erstaunlich, wenn eine These, wie sie Piketty vertritt, nicht alle möglichen Vertreter der ökonomischen Disziplin auf den Plan ruft, alles noch einmal nachzurechnen und Inkonsistenzen aufzuspüren. Das ist völlig legitim und am Ende wird es den Vertretern des gesellschaftskritischen Lagers mehr nützen, wenn die Wahrheit zur Frage der Ungleichheit ans Tageslicht rückt. Die Resonanz von Piketty’s Buch hat schon jetzt bewirkt, dass das Thema der Ungleichheit in aller Munde ist. Sein Widerhall in der amerikanischen Öffentlichkeit beweist, wie sehr er die Achillesferse des amerikanischen Gesellschaftssystems in das Zentrum seiner Kritik hat. Dass Piketty’s Buch auch bei uns bereits weit im Vorfeld seiner Übersetzung für den deutschen Markt eine heftige Debatte ausgelöst hat, zeigt, wie sehr die Frage der Ungleichheit im Unterholz des gesellschaftspolitischen Raums auch in Deutschland Platz greift.
von Dr. Arno Brandt, Ökonom
Dr. Arno Brandt
Jahrgang 1955, schloss sein Studium als Diplom-Ökonom an der Leibniz Universität Hannover ab. Dort war er von 1985 bis 1990 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Fachbereich Wirtschaftswissenschaften tätig. Im Anschluss wechselte er zur Norddeutschen Landesbank, wo er zuletzt die Abteilung Regionalwirtschaft als Bankdirektor leitete. Seit Mitte 2012 ist er Institutsleiter des CIMA Instituts für Regionalwirtschaft am Standort Hannover. Darüber hinaus ist er Lehrbeauftragter am Institut für Umweltplanung der Leibniz Universität Hannover sowie Mitglied des Konvents der Evangelischen Akademie Loccum und des Beirates der Zeitschrift „Neues Archiv für Niedersachsen“.