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Eigenes Leben – Aufklärung 4.0

Identität als offener Bruch

„Es geht nicht auf!“ So bilanziert sich die ernüchternde Erkenntnis, wenn wir unser Lebens­gefühl in der ‚Postdemokratie‘ (Crouch) auf den Punkt bringen sollen. Gleich­ in welcher Hinsicht wir uns denken: als mündige Bürger, kritische Kon­su­menten oder beruflich Tätige – in keiner dieser gesellschaftlichen Funktionen geht die Gleichung auf, sondern unsere persönliche Iden­tität bleibt als offener Bruch zurück: Leben im 21. Jahr­hundert heißt in erster Linie, seine Haut unablässig zu Markte zu tragen, sich per­manent im Wettbe­werb anzubieten. Diese ständige Profilierung und Verfügbarkeit ver­langt zu viel. Der Kon­sum­­kapitalismus ent­wertet uns:

<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Die Anordnung, ‚überall jemand zu sein‘, erhält den pathologischen Zustand aufrecht, der diese Gesellschaft     notwendig macht. Die Anordnung, ‚stark zu sein‘, produziert so sehr die Schwäche, mit der sie sich
aufrechterhält, dass alles eine therapeutische Seite anzunehmen scheint, …“[1]

Es ist die Sprache der Werbung, die sich und uns verrät. Sie verführt nicht nur, son­dern fabuliert über gelingende Indivi­dualität in einer schön gefärbten Rhetorik der Selbst­ver­wirk­lichung, die kein Mentaltraining besser formulieren könnte: <em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Innovate, don’t imitate!“ „Folge dei­nem in­neren Kompass!“ „Immer frei, nie ziellos!“ sind nur einige Bei­spiele, die so tun, als ob mit Konsum ein sinnerfülltes eigenes Leben glückt. Die Botschaft lautet: wenn du schon das Leben, das du eigentlich haben möchtest, nicht führen kannst, dann kauf‘ dir jetzt wenigstens den Moment … Das al­lein ist aber nicht das Problem. Werbung als „Wunschvorzeigemaschine“ (R. Barthes) ani­miert und wird dafür Sprache bis an die seman­tische Schmerzgrenze strapazieren. Das Thema verschärft sich da­durch, dass viele andere Bilder in der Öffentlich­keit, die auch Orientierung bieten, an Relevanz ver­lieren bzw. ganz verschwinden. Ideale, die keinen öko­nomischen Erfolg ver­sprechen, werden als unnütze ‚Gutmenschart‘ verun­glimpft. Bildung ist kein er­strebens­wertes Ziel mehr, sondern es sind nur noch marktförmige Kom­petenzen ge­fragt. Künst­leri­sches Talent genügt nicht, es sei denn die Kreativität lässt sich kom­merziell ver­werten.

Offenheit für Neues reicht auch nicht mehr aus, sondern es wird ständige Anpas­sungs­­fähigkeit an sich verändernde Markt­bedingungen erwartet – allen Erfordernissen ge­mein­­sam ist, dass sie auf die individuelle Ebene herunter gebrochen sind. Wer sich so als Einzelner immer wieder dem Markt stellen muss, hört auf, die Ver­hält­nisse in Frage zu stellen. Die Wirtschaft bietet ja jede Menge Möglichkeiten, so der Tenor, doch das Indi­viduum steht dort ziemlich allein – und genau da tragen die trügerischen Bilder der Wer­bung, die so tun, als ob wir frei über uns entscheiden könnten. „Better your Best“ – der Wettbe­werb der ‚modularen Selbstunternehmer‘ (Mirowski) läuft auf allen Kanälen und vollen Touren. Keiner will unter die Räder kommen: Markt­förmige Selbstopti­mierung statt ge­sellschaft­licher Selbster­mächtigung.

Individualisierung, darauf hat der kürz­lich ver­storbene Soziologe U. Beck hinge­wiesen, wird so zum Austragungs­ort gesellschaftlicher Paradoxien, die durch die ein­seitige Trimmung auf den Markt hervorgerufen werden:

„Die Lebensbedingungen der In­dividuen werden ihnen selbst zugerechnet; und dies in einer Welt, die sich fast voll­ständig dem Zugriff der Individuen verschließt. Auf diese Weise wird das ‚eigene Leben‘ zur biographischen Lösung systemi­scher Wider­sprüche.“[2]

Aufklärung neu denken

Das System, bin ich geneigt zu ergänzen, hat ge­siegt: wir wollen nur noch uns, nicht länger die Verhältnisse ändern. Die politische Aufklärung kommt an ihr Ende, weil sich ihre emanzipatorische Programmatik erschöpft. Zwar haben wir uns aus der eigenen Unmündigkeit be­freit (Aufklärung 1.0) und gelernt, mit der „Dialektik der Aufklärung“ (Horckheimer / Adorno) umzugehen (2.0), aber die „Erfindung des Politi­schen“, welche die reflexive Moderne (Beck) neu zu beleben suchte, mündet in den Offenbarungseid der aktuellen Politik, nur noch zu administrieren, reformieren und novellieren, was eigentlich als ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>das Politische‘ ge­staltet werden müsste.

Was hat sich gedreht? In der reflexiven Moderne (Aufklärung 3.0) beugte sich das auf­geklärte Individuum über sich selbst, um erstaunt festzustellen, dass es sich im Plural denken kann, dann aber lernen muss, mit der eigenen Selbst­widersprüchlichkeit umzu­gehen, welche die individualisierte Gesellschaft im Einzelnen erzeugt. Am Ende der „gro­ßen Rah­men­­er­zählungen“ (Lyotard) bleiben kaum Leitbilder übrig, an denen sich das Individuum in seiner politischen und persönlichen Idee vom eigenen Leben aus­richten kann. Die marktkonforme Demo­kratie hat aus allem einen Wettbe­werb ge­macht, der nur pragmatisch, nicht ideologisch zu gewinnen ist. Wir haben Optionen, aber keine Überzeugungen mehr. Das fluide Ich bringt sich in jede ge­wünschte Form. Gelingendes Leben spiegelt sich im wirtschaft­lichen Erfolg wider und der Einzelne, der sich andere Ziele setzt, muss sich fragen lassen, ob er die Spielregeln verstanden hat. Wer es nicht schafft, sich auf dem Markt der Möglich­keiten zu be­haup­ten, wird gesell­schaftlich zur Randfigur, dem der eigene Individualisierungs­anspruch vor die Füße fällt.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Aufklärung 4.0, um das vielheitsfähige Ich neu zu den­ken. Wir haben ein Leben zu führen, und diese Lebensführung verlangt uns einiges an Entscheidungen ab. Dafür ist weder das Ideal der philosophischen Aufklärung noch die optio­nale Vielfalt marktförmiger Lebensstile ein geeignetes Modell. Die Aufforderung, unser Leben zu ge­stalten, also Bürger, Konsumenten, Arbeiter und vieles mehr zu sein, hat sich seit dem „Pro­jekt der Moderne“ (Habermas) nicht geändert. Was anders ist, ist die Art und Wei­se, wie wir unser eigenes Leben überantwortet bekommen. Wir werden allein und uns selbst überlassen. Alles, was wir tun und wofür wir stehen, ist begrün­dungs­pflichtig. Nichts ergibt sich von selbst, nichts kann mehr entschuldigt werden mit der sozialen Herkunft oder fehlenden Chancen. Da wird es schwer, sich als Autor und Sub­jekt der eigenen Lebens­geschichte (Bieri) zu erzählen, wenn einem alles so zu­ge­rech­net wird, nur weil es prinzipiell verfügbar scheint. Wie kann dem­nach eine Auf­klärung 4.0 aus­sehen, in der das Indivi­duum in ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>einer Zeit der verlorenen Unschuld‘ (Eco) sinnvoll von sich sprechen kann?

Das System signalisiert uns über Körperkult, Arbeitsflow, Konsum­druck, Fitness- und Ernährungstipps, dass wir ständig an uns arbeiten müssen, nie zu­frieden sein dürfen, also uns nicht auf Augenhöhe befinden. Das neoliberale Ich ist nicht freier, aber jetzt spüren wir die Lücke deutlicher, weil alles um uns herum genau diese Freiheit (und sei es nur als Wahl) zu verkörpern scheint. Die Multioptions­gesellschaft schickt uns auf die Jagd nach dem eigenen Ich, so als ob es nur eine Frage wäre, welche optimierte Ver­sion unseres Selbst wir heute gerne darstellen möchten. Wahlfreiheit? – In Wirklichkeit stellt sich die Frage anders, nicht nach Opportunität.

Aufklärung auf Augenhöhe

Der Einzelne ist in Sorge um sich (Foucault) und möchte sich selbst ernst nehmen kön­nen (Frankfurt); d.h. sich nicht einfach so hinnehmen wie man eben ist. Menschliche Lebens­führung findet in dieser „Vertikalspannung“ (Sloterdijk) statt. Wir ‚Paradoxie­künstler‘ bemühen uns, in fließenden Grenzen und bei offenen Strukturen auf schwan­kendem Fundament etwas Ver­nünftiges zustande zu bringen. In der Auseinander­setzung mit sich selbst und an­deren, in der wir eigene Ziele haben und uns bewusst zu ändern suchen, liegt der Kern einer ‚Autonomie auf Augenhöhe‘. Wer auf Augenhöhe ist, hat eine Idee von der eige­nen Würde sowie ihren unveräußerlichen Rechten und besitzt die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Die Pointe liegt darin, dass wir in diesem Bemühen immer wieder auch scheitern und neu anfangen.

Auf Augen­höhe mit den politischen Verhältnissen zu sein, be­deutet, sich nicht als Spiel­ball zu empfinden, sondern Spiel­räume wahrnehmen zu können. Eine Aufklärung 4.0 sieht das Indi­vi­duum in dieser Spannung, „sich bewegen, aber nicht bestim­men lassen zu wollen“ (Seel) und de­finiert Autonomie als das reflexive Eingeständnis in die eigene Selbstwider­sprüch­lich­keit, da wir politisch und persönlich viel wollen, aber oft nicht erreichen, was wir uns vornehmen. „Die politisch flexible Identität kämpft darum, als das anerkannt zu werden, was sie ist.“[3] Wir wollen spüren, dass wir unser Leben in der eigenen Hand haben, auch wenn wir wissen, nicht alles selbst beeinflussen und steuern zu können. Um ein starkes Bild zu wählen: wir wären gerne ‚Primzahl­men­schen‘ (A. Schmidt), ein unverfügbares Ich, das durch nichts als sich selbst teilbar ist.

<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Das moderne Individuum, das keine vorgegebene Ordnung mehr antrifft, braucht statt Emanzipation und Befreiung Kreativität und Selbsterfindung – ein ständiges Tasten im Ungefähren.“ (R. Leick in: Spiegel Online, 03.01.2015)

Den Selbstanspruch aber immer wieder neu zu formulieren, also auch auf Augen­höhe mit sich zu sein, zeichnet uns aus – und wir wollen in einer Gesellschaft leben, die uns diese Möglich­keiten, anders und besser zu werden, offen hält. Und das meint Anderes und mehr als zu konsumieren oder sich für die eigene Beschäftigungsfähigkeit weiter zu qualifizieren. Unsere widerständige Identität geht nicht auf in einer „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Funktion des Nützlichen“: Eigen­initiative ist mehr als Selbstunternehmertum; Selbstbewusstsein er­schöpft sich nicht in der Existenzgründung einer Ich-AG – und sein Leben verant­wort­lich organi­sieren zu können, be­inhaltet mehr als soziale und ökonomische Kom­petenz­profile eil­fertig zu erfüllen. Das gute Leben hat mit politischer Selbstbestimmung zu tun, auch wenn wir uns als Bürger in der täglichen Umsetzung widersprüchlich zeigen.

Die neue Aufklärung will politisch ermutigen und individuell wertschätzen, ohne zugleich wieder ein Ideal zu formu­lieren, das weder die Gesellschaft noch der Ein­zelne er­reichen kann. Das war gut gemeint, aber ein Fehler der Aufklärung 1.0, den wir nicht wiederholen sollten. Auf­klärung 4.0 ermöglicht das „Nein zur eigenen Wahrnehmung“ (Gebauer).

Wer diesen Satz politisch versteht, kann nur eine offene, pluralistische, demokratische und rechts­staatliche Ge­sellschaft von freien Bürgern meinen, weil alles andere diese Selbstwider­sprüch­lichkeit, die uns als Freiheit auszeich­net, verneint. Wir wollen uns aber nicht negieren lassen weder von den politischen noch den öko­nomischen Ver­hältnissen. Lasst uns auf jeden Fall über alles streiten, was diese ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>neue Bürger­lichkeit‘ sein kann, will und soll, aber lasst sie uns auf keinen Fall mehr nehmen.

Stefan Wolf

Literatur:

Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011.
Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a.M. 1993.
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2010.
Eco, Umberto: Nachschrift zur Name der Rose, München 1984.
Gebauer, A./Kiel-Dixon, U: Das Nein zur eigenen Wahrnehmung ermöglichen, in: Organi­sations­entwicklung Heft 3/2009, S. 40-49.
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Kleine politische Schriften, Frankfurt a.M. 1981.
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004.
Frankfurt, Harry: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt a.M. 2007.
Lyotard, Jean Francois: Das postmoderne Wissen, Wien 1999.
Seel, Martin: Sich bestimmen lassen, Frankfurt a.M. 2002.
Sloterdijk, Peter: Du sollst dein Leben ändern, Frankfurt a.M. 2009.

[1] ) Unsichtbares Komitee: „Der kommende Aufstand“, Hamburg 2009, 12.
[2] ) Ulrich Beck: „Das Zeitalter des eigenen Lebens“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (apuzg) B 29 / 2001, 12.
[3] ) Charim: „Der leere Ort“, in: SonnTAZ 18./19.10. 2014. Vgl. hierzu auch meinen Artikel in: www.forum-fuer-politik-und-kultur.de.

Über den Autor

Dr. Stefan Wolf

Jahrgang 1963, ist promovierter Philosoph und hat an der Uni Bamberg Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. 1995 kam er zur EXPO 2000 GmbH und hat im Themenpark und der Kommunikation für die Weltausstellung in Hannover gearbeitet. Nach Tätigkeiten für die Prognos AG in Basel und das Bildungshaus in Hannover ist er seit 2002 bei der Volkswagen AG. Anfangs war er verantwortlich für die AutoUni, die Corporate University des Konzerns. Inzwischen ist er in der Produktstrategie für VW Nutzfahrzeuge. Seit 2007 lehrt er Sozialwissenschaften und Zukunftsforschung am Institut für Transportation Design (ITD) der HBK in Braunschweig. Dr. Stefan Wolf Stefan.wolf@volkswagen.de

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