Forum für Politik und Kultur e.V.

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Prof. Dr. Stefan Wolf

Wir Hochstapler „Mach‘ Dich breit!“  – zum aktuell dominanten Lebensgefühl

27/3/2017

„Du musst trinken, Narziss!
Nicht Dich bewundern.“
R. Char

Von Luhmann stammt die Paradoxie, dass wohl niemand, der auf die Gesellschaft blickt, sagen würde, dass man sich das so vorgestellt hat. Jedoch müssten wir zugeben, am ak­tuellen Lebens­gefühl und den gegenwärtigen Verhältnissen nicht ganz un­schuldig zu sein. Und so bleibt nur die leise Hoff­nung, dass ein Phänomen wie der jetzige amerikanische Präsident die letzte böse Pointe einer gesell­schaft­lichen Entwicklung ist, zu der wir alle – ob nun wissentlich oder nicht – bei­tragen: die Hoch­stapelei. Ja! – Ich behaupte, wir sind inzwischen alle zu Auf­schneidern und Hoch­staplern ge­worden und blasen unser Leben mit Superlativen auf, weil nie­mand mehr ein nor­males Leben führen will. Dann ist der Schritt nicht weit, dass Narzissten wie Donald Trump salon­fähig werden, obwohl ihnen nicht nur jegliches politisches Gespür, sondern auch jede demo­kratische Tugend fehlen. Wir alle, so lautet mein Vorwurf, haben dieses gesellschaft­liche Klima mit geschaffen, in dem ein „who the fuck first“  ge­deihen konnte, weil wir selbst schnell vorne mit dabei sind, ich­bezogene Er­wartungen zu formulieren und penibel darauf zu achten, uns vorteil­haft dar­zustel­len.

Hochstapelei fängt unscheinbar an, kaum bemerkt und mit langer Latenz, z.B. bei der Sprache. Es begann mit Berufs­be­zeich­nungen, die durch „Plastikwörter“ regelrecht aufgepeppt wur­den, ob­wohl sich an den eigent­lichen Aufgaben nichts geändert hatte; denn im Back Office (Hinter­zim­mer) wird immer noch jeder ein­zelne Hand­griff getätigt, zu dem sich der Chef zu fein ist und ein Key Account Manager ist eben auch nicht mehr als ein einfacher Verkäufer, der Klinken putzt. Ebenso wird die Hausmeistertätigkeit nicht allein dadurch besser, weil sie jetzt ‚Facility Manage­ment‘ heißt. Bei den Start-Ups wird im ‚Wording‘ noch eine Schippe drauf gelegt. Nie­mand ist mehr in einem normalen Arbeits­verhält­nis, sondern ein ‚Creative Director‘ und darf sich seine Aus­beutung zum Hunger­lohn mit begrifflich ausge­schmückten Be­zeich­nungen am kunter­bunten Kickertisch mit einem veganen Chai Latte versüßen – voll ‚intrinsisch moti­viert‘ ver­steht sich. So ‚faken‘ wir alle mit in und an dieser aufgesetzten Leistungsgesellschaft und feiern den schrulligen IT-Nerd schon als zu­künftigen CDO (‚Chief Digital Officer‘) …

Die Hochstapelei geht weiter mit Selbstvermarktungssprüchen, die jedem guten Mentalcoach die Schamesröte ins Gesicht treiben. Aber auch die eigene Ich-AG ist in der postfaktischen Arbeits­welt an­ge­kommen und optimiert sich, wo sie geht und steht. Da werden monstermäßige Berufe ver­sprochen, die sich dann hinter der PR-Fassade als stinknormale 9-to-5-Jobs erweisen („span­nende Challenges, abwechslungsreiche Tätigkeit: be agile“). Es wird auch vor dem einen oder anderen geistigen oder körperlichen Doping durch diverse ‚Enhancements‘ nicht Halt ge­macht, um marktförmig im Hamsterrad weiter produktiv sein zu können. Und schließlich ist da noch die Rhe­torik der Werbung, die sich nicht entblödet auch noch die tiefsten Niederungen der Sinn­sprüche aus Poesiealben auszuloten, um ihre Produkte an uns Konsumierende zu bringen. Ein­fache Bau­märkte entfalten sich zum Para­dies der Selbstgestaltung. Parfums prägen ganze Lebens­­stile (‚Innovate, don’t imitate!‘) und schnödes Bier bietet einen inneren Kompass für den Weg ins ei­gene Glück. Und warum zu „Vive le moment“ geraucht werden muss, erschließt sich nicht. Diese Sprache der ständigen Übertreibung nervt: nichts darf mehr einfach und schlicht sein, sondern ist fo­kussiert und auf das Wesent­liche verdichtet, von einer ganz eigenen Intensität. Merken wir überhaupt noch, was wir da verbal von uns geben?

Nun kommt der Einwand, dass wir alle klug genug sind, die leeren Versprechungen der Wer­bung zu durchschauen und uns als kritische Konsumenten eine eigene Meinung bilden können. Weit gefehlt! Die Wirklichkeit sieht anders aus. Auf der richtigen Suche nach uns selbst, sind wir offensichtlich mehrfach falsch abgebogen und in einer paradoxen, gesell­schaftlichen Situation gelandet, die – wie Luhmann richtig resümiert – eigentlich keiner wollte, in der aber trotzdem alle versuchen, irgendwie mitzumachen und zu­recht zu kom­men. Wir sind, so Schirrmacher, in einer Welt der „egoistischen Nutzenmaximierer“ ange­langt, weil das Narrativ des Erfolgs uns dies so einredet (und wir daran glauben wollen). Dann ist der Weg zu einer populistischen Weltan­schauung nicht mehr weit: wir stellen uns ich-süchtig an den An­fang und ins Zentrum – und da­nach kommt erst einmal lange nichts außer die eigenen An­sprüche. In einer solch kleingeistigen Nabel­schau kommt man sich dann auch selbst wieder „groß“ vor.

Nehmen wir das gegenwärtige Bild, das wir als Gesellschaft in den sozialen Medien abgeben. Dort ist Hoch­stapelei in Form aufpolierter Trugbilder an der Tagesordnung. Nicht nur, dass sich die Fotos der Selbstdarstellung gleichen und bestimmte Erfolgsmuster perpetuieren, son­dern jedes Bild setzt in Szene. Es wird eine Welt vorge­gaukelt, in der alle ausgesprochen hübsch, sexy, witzig und muskulös sind. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Die weibliche Mager­sucht findet, so die SZ, ihr Pendant in der männ­lichen Muskelsucht. Es gilt um jeden Preis aufzufallen im Kampf um das knappe Gut ‚Aufmerksamkeit‘. Alle manipulieren und ver­suchen sich im besten Licht dar­zustellen. Da gerät die gelebte Wirk­lichkeit schnell aus dem Blick oder wird zu einem Problem, weil sie mit der eigenen Selbstwahrnehmung kaum Schritt hält.

Und so geht es weiter auf unseren Straßen. Hier ist der SUV die Hochstapelei im Verkehr. Es scheint nur um die Frage zu gehen, wer in dieser Blechhierarchie das größte Pferd hat. In un­seren dicken Kisten blähen wir uns auf, beanspruchen Raum, der uns nicht gehört (sondern allen) und sind gemeinsam mit unseren Fahrzeugen auf anabolen Steroiden: wir machen uns breit auf Kosten der an­deren, insbesondere jener Verkehrsbeteiligten, die ohne „Commander Position“ unterwegs sind. Das nehmen wir für unser souveränes Fahrgefühl in Kauf und thronen weiter selbstgefällig über dem Verkehr.

Letztes einprägsames Bild: der Konsum. In den Fußgängerzonen volle Tüten (oft noch Plastik). Wir stopfen uns die Taschen, um nach möglichst viel auszusehen, obwohl das ein­zelne Teil kaum großen Wert besitzt. Auch hier stapeln wir im wahrsten Sinn des Wortes hoch, packen Ein­kaufs­wägen in Supermärkten voll und schleppen nach Hause, was wir oft nicht be­nötigen (um es nicht selten wieder wegzuwerfen). Und es genügt ja auch nicht mehr, einfach gut zu essen und zu trin­ken, sondern dazu braucht es „Super Food“. Der Überfluss wird zur Schau gestellt, weil ein Bild nach außen er­zeugt werden soll. Und Image ist wichtig, wenn nicht sogar alles – auch hier zeigen sich die erschreckenden Parallelen zu Donald Trump, der immer noch so agiert, als wäre er in der Reality-Show. Trump ist die logische Konsequenz der schlechten Seiten der Post­moderne, ihrer Beliebigkeit und fehlenden Konsequenz, so E. Bronfen im Interview von AVENUE, einem neuen Magazin, das sich mit „Hochstapelei“ befasst. Tenor ist, dass wir zwar keine neue Stufe, aber ein erschreckendes Ausmaß des Phänomens erreicht haben.

Der Einzelne als Hochstapler ist eine prominente Sozialfigur. Jeder kennt den „Hauptmann von Köpenick“ und „Felix Krull“ aus der Literatur  – oder die geschönte Bio­graphie und den unrecht­mäßig erworbenen Doktortitel des einen oder anderen Promis aus dem echten Leben. Aber was bisher Einzeltaten waren, wird nun zum gesellschaftlichen Risiko: wenn alle vorgeben als etwas zu gelten, was sie nicht sind, und aus jedem Lebensplan eine Erfolgsgeschichte wer­den soll;

wenn man sich anmaßt, was Besseres zu sein und alles nach ‚mehr‘ aussehen muss, dann produziert eine Gemeinschaft zu viel Neid, Missgunst und Aus­grenzung, weil jeder nur noch engstirnig ein­klagt, was ihm vermeintlich zusteht: Willkommen in der Welt der Populisten, die vorgeben, ‚Identität und Inter­essen des Volkes‘  zu wahren. Es hat den An­schein, als ob – im öffentlichen Umgang miteinander – Bescheidenheit als Dummheit, Selbstkritik als Schwäche und Offenheit als Fehler betrachtet werden, die man sich nicht leisten darf.

Nun will ich abschließend nicht bestreiten, dass es schwer ist, im Konsumkapitalismus ehrlich bei sich selbst zu bleiben, zu verführerisch sind die Ablenkungen einer Sprach- und Bildkultur, in der wir uns alle größer machen können als wir sind. Aufschneiderei streichelt das eigene Ego und sorgt – auf den ersten Blick – für soziale An­erkennung. Ein ‚Stoff‘, so attestiert uns die Gehirn­forschung, nach dem man süchtig wird. Wie also können wir den kritischen Diskurs um Selbst­verwirklichung führen, ohne nur noch nach Selbstoptimierung im ökonomischen Sinn zu klingen? Ein erster Schritt wäre, den bloßen Verwertungszusammenhang, in den wir uns als kalkulierende Marktkonkurrenten manövriert haben, zu reflektieren und Maßstäbe zu finden, die über das Messbare hinaus­ führen.

Klar ist: Es ist eine schwierige, aber erlernbare Technik, mit sich selbst umzugehen. Jedes tiefere Nach­denken über die Frage: „Wer bin ich?“ endet früher oder später in iterativen Schleifen, in denen wir uns selbst nicht einholen können. ‚Per sonare‘ heißt zwar durch die sozialen Rollen und gesell­schaftlichen Funktionen hindurchklingen, aber die ‚dahinter‘ stehende Per­son kommt des­wegen nicht unbedingt zum Vorschein. Das macht es nicht leichter, sich mit sich selbst auszu­kennen, aber auch nicht unmöglich; denn die Frage nach dem eigenen Ich ist unab­weis­bar, wie P. Bieri betont. Die Sorge um sich hört nie auf, bleibt präsent und stellt sich immer wieder neu.

Wir sind außerdem viel zu sehr auf andere ausgelegt, als dass wir die Frage nach uns selbst al­leine beant­worten könnten: „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch.  Das bedeutet im Umkehrschluss, die Neigung zur Hochstapelei ist der Suche nach per­sönlicher Identität und in­divi­dueller Selbstbestimmung in­härent. Wir müssen ihr be­gegnen und antworten. R. Willemsen hat posthum ein kleines Manifest hinterlassen. Darin blickt er aus der Zukunft auf ‚unsere breite Gegenwart‘ und warnt: Wir stapeln hoch (und immer höher), wenn wir von uns selbst nicht auf­gehalten werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns nach allen demo­kra­tischen und sozialen Regeln des Mit­einanders wieder Grenzen setzen und Einhalt gebieten.

Stefan Wolf

Zitierte, verwendete und weiterführende Literatur:

AVENUE: Hochstapler*in, das Magazin für Wissenskultur, 01/2017; darin: Bronfen, Elisabeth im Interview, S. 13-22 und „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch“  (Virchow/Kaiser, S. 3)
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011
Char, René: „Il fallait boire narcisse! Ne pas te mirer!“ , in:  „Le miroir des eaux“, Paris 1952
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004
Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M.  2010
Haller, Reinhard: Die Narzissmusfalle, 2013 (zit. n. SZ v. 11./12.2.17, S. 49)
Karafyllis, Nicole (Hg.): Das Leben führen, Berlin 2014, zum Thema ‚Techne‘, insbes. S. 15ff.
Luhmann Niklas: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992
Möbius, S./Schroer, M. (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010
Pörksen, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 2012 (7.Aufl.)
Das Buch erschien bereits 1988: „Die Gemeinsamkeit der Plastikwörter besteht in einem ungewöhnlichen Übergewicht des Konnotats (also der Assoziationen, Anm. d. Verf.) gegenüber einem im Grunde nicht mehr vorhandenen Denotat (das, was eigentlich bezeichnet werden soll, Anm. d. Verf.).“
Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a.M. 2009
Schirrmacher, Frank 2013, zitiert nach Hampe, M.: Die Lehren der Philosophie, Berlin 2014, S. 41. Ein weiterer Begriff, der dies illustriert, kommt von Sloterdijk, P.: Wir leben in einer Epoche der ‚Schadens­ersatzansprüche‘ … O. Nachtwey bezeichnet uns Bürger*innen in der „Abstiegsgesellschaft“ (Frankfurt a.M. 2016) als „Kunden mit Rechten“ (Umschlag)
Süddeutsche Zeitung (SZ): „Mach Dich breit!“ (Wochenendbeilage v. 18./19. 02. 2017)
Willemsen, Roger: Wer wir waren, Frankfurt a.M. 2016
„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ (Zitat Umschlag)
Wolf, Stefan: Citoyen21 – der leere Ort. Eigene Lebensführung als kritische Masse, in: Ders./ Marquering, P. (Hg.): Unkritische Massen? Berlin 2016, S. 111 – 132, insbes. S. 119ff.

Schreiben was fehlt – ​Der Flüchtigkeit begegnen – zum Tod Zygmunt Baumans

18/1/2017

Nun hat er am eigenen Leib erfahren müssen, wovon er als „menschliche Grundbefind­lichkeit“ ein Leben lang gesprochen hat: die Flüchtigkeit der Existenz. Mit 91 Jahren ist Zygmunt Bauman gestorben und hinterlässt uns ein ebenso philosophisches wie sozio­logisches Denken, mit dem wir die Welt eindeutig besser verstanden haben, auch wenn er uns mit zunehmenden Alter immer weniger Mut machte, dass es überhaupt „so etwas wie eine gute Ge­sellschaft“ geben könnte. Und wieder fehlt eine Stimme mehr jener Zeit­zeugen, die den Holo­caust miterlebt haben, auch wenn Bauman selbst nicht interniert war. Ausschwitz dürfe sich nie wiederholen, insistierte er mit Adorno, als ihm 1998 der gleichnamige Preis ver­liehen wurde.

„Postmodernes Bewusst­sein hat sich mit der Idee ausgesöhnt, dass das Durcheinander menschlicher Grundver­fasstheit für immer bleiben wird.“ Es sind die falschen Ver­sprechungen, die inneren Widersprüche sowie tie­fen Ab­gründe der Moderne, mit denen er sich zeitlebens beschäftigte und auch in meinem Versuch, die spätmoderne Gesell­schaft zu verstehen, fest ver­ankert hat. So habe ich mir „Wasted Life“ in der deutschen Über­setzung: ‚Verworfenes Leben‘ zu eigen gemacht. Das Wort meint mehr als ein Leben, das einfach nur ‚weggeworfen‘ wird. In ‚Verworfenheit‘ kommt ein nicht gerade verlaufener Lebensweg zum Aus­druck, aber auch nicht verwirk­lichte Lebensentwürfe, die – und dies ist das Besondere am Begriff – im gelebten Leben rekonstruierbar blei­ben, also auf­scheinen und erzählt werden können. Die Lebens­ge­schichte gerinnt zum Narrativ aus Ent­scheidungen und Unterlassungen, die zu dem führen, was wir ‚eigenes Leben‘ nennen. ‚Das Bedürfnis im Denken will aber, das gedacht wird‘ – mit diesen Wor­ten Adornos, die Bauman bei jener Preisverleihung zitierte, verwies er darauf, dass wir der ‚permanenten und nicht reduzier­baren Ungewissheit im Leben‘ nur sprachlich-reflexiv begegnen können: Reflek­tiertes Leben ist erzähltes Leben.

Und so geht es mir auch mit einer weiteren, für Bauman zentralen Metapher: „liquid modernity“; im Deutschen idiomatisch mit ‚flüchtiger Moderne‘ übersetzt. „Liquid“, wört­lich: ‚flüssig, zäh fließend‘ setzt sich als Bild in meinem Kopf fest, wenn ich gegenwärtige Ge­sellschaften beobachte. Da ist von fluider Autonomie ebenso die Rede wie von agilem Pragmatismus – die verflüssigende Form bezieht sich somit nicht nur auf soziale Ord­nungen oder gesellschaftliche Normen, sondern meint auch den Übergang ins Of­fene, ins Ungewisse, das „Ende aller Eindeutigkeit“, wie er es nannte. In dieser Hinsicht ist Bauman post­modern, weil er das Ende der großen Rahmenerzählungen (Lyotard) proklamierte und die Termini ‚Kon­tingenz‘, ‚Fragmentierung‘ und vor allem ‚Ambivalenz‘ im Mund führte, um die „next modernity“ zu beschreiben. Er hat die Mo­derne kritisiert und betont, dass uns keine große Idee, kein übergeordnetes Ziel und auch kein Kollektiv entlasten würde, in der Verwiesen­heit auf andere, um unser eigenes Leben zu führen. Soziale Interaktion sei ambi­valent, moralische Entscheidungen schwer zu treffen und noch schwerer zu verantworten. Davon zeugte auch die eigene Biographie, in der er nie leugnete, für die Kommunisten Spitzel gewesen zu sein und sich schuldig bekannte, ein­fach mitgemacht zu haben als ‚Preis zu über­leben‘.

Bauman blieb sich dieser individuellen Fehlbarkeit und Widersprüchlichkeit bewusst und baute die eigene Lebenserfahrung in seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen mit ein. „Liquid“ meint ja auch, dass Struk­turen nicht mehr kristallin, also fest werden, son­dern beweglich bleiben. Sie sind dann nur von jenen zu ‚beugen‘, die die Mittel haben, darüber zu verfügen. Für alle anderen entwickelt sich die ‚flüchtige Moderne‘ zum Prob­lem: z.B. für die, die (gute) Arbeit suchen, sich ausgeschlossen fühlen, auf der Flucht oder ein­fach nur anders als die ‚Norm‘ sind und deswegen diskriminiert werden.

‚Postdemokratie‘ nennt Colin Crouch (2010) jene politische Ord­nung, die sich weniger am Gemeinwohl und mehr an Partikularinteressen der Mächtigen orientiert. Wenn Politik nicht mehr der Allgemeinheit dient, dann wird ‚Flüchtigkeit‘ zur Repression, Ausgren­zung und Ungleichheit, weil Vernunft in öffentlichen Diskursen diskreditiert wird und demo­kratische Rechte unterlaufen werden. Gegen diese privilegierten Machteliten blieb Bau­man unversöhn­lich im Denken und unermüdlich im Schreiben. Er sei ein Beobachter und habe nichts anderes gelernt, außerdem könne er seine Neugierde an gesellschaftlicher Entwicklung nicht einfach so ‚in Rente schicken‘, betonte er immer wieder – auch im hohen Alter.

Natürlich steckt da ein Schuss Kulturpessimismus drin und es kommt auch die moralische Haltung eines Menschen zum Tragen, der vieles erlebt und überlebt hat (er floh vor den Nazis in die Sowjetunion), aber die Verve, mit der er den gegenwärtigen Entwicklungen entgegen trat und der Ton, den er anschlug, um dem Zeitgeist die Leviten zu lesen, be­eindrucken mich nachhaltig. Es ist dieser Umgang mit Sprache, der mich berührt. Dieses Schneiden in Begriffe, um Bedeutungsreste an die Oberfläche unserer Wahrnehmung zu bringen. Bauman schreibt, was fehlt, auch wenn er es an der einen oder anderen Stelle an wissenschaftlicher Genauigkeit fehlen ließ. Seine Bücher sind keine Textbilder, die man sich an die Wand hängt, sondern Fenster, durch die Dinge sichtbar werden, die sonst unentdeckt blieben. So dringt er nachdrücklich in unser gegenwärtiges Lebens­gefühl ein, in dem wir es uns nur allzu gerne leichtfertig bequem machen, z.B. der eigene Konsum. Bauman war kein pauschaler Kapitalismuskritiker oder linker Systemdenker, aber wie sich aus scheinbar eigenständigen Kaufentscheidungen ein sozialer Zwang zum Konsum entwickelt, hat ihn intensiv beschäftigt.

Plötzlich bindet sich die gesellschaftliche Wertschätzung an den Konsum als wäre ein ‚Mitgliedsbeitrag‘ zu entrichten, um dazu zu gehören. Zu konsumieren wird oberste Bürgerpflicht und die Sprache der Werbung suggeriert, als hätten wir es selbst in der Hand. Dabei erhöht sich ständig der soziale Druck. Das ganze Spiel ist inzwischen so perfide, dass uns Bürgern Konsumverzicht negativ angerechnet wird. Wir hätten uns ja für die verjüngende Pflegeserie, die Krankenzusatzversicherung oder auch gesunde Ernährung entscheiden können und wären somit – aus Sicht der Wirtschaft – fitter, ge­sünder und vitaler, also ein besserer Teil der Gesellschaft. Wer sich dem Konsum entzieht bzw. nicht mitspielen kann, hat die Konsequenzen, immer weniger sichtbar zu werden, zu tragen: „Wo immer wir uns aufhalten, sind wir zumindest teilweise ‚dis­placed‘, am falschen Ort und fehl am Platz.“

Die freie Kaufentscheidung, die Option zu wählen, entwickelt sich zur Pflicht, wobei das Glücksversprechen systematisch gebrochen wird; denn nichts wäre schlimmer als ein wunschlos glücklicher Kunde. Nachtwey hat das in seinem jüngsten Buch „Die Abstiegs­gesellschaft“ auf den Punkt gebracht: Der Marktbürger ist kein Bürger mehr, sondern ein Kunde mit Rechten.

​Und selbst diese, so würde Bauman zornig ergänzen, sind wir bereit uns ‚abkaufen‘ zu lassen, wenn wir nicht aufpassen und unsere politische Existenz in Marktkonformität auf­geht. Da klingt das Wort der Kanzlerin von der „marktförmigen Demokratie“ noch nach. So wird – und das hat er luzide analysiert – der Individualismus zu einem gesellschaft­lichen Problem, weil es desintegrativ ist, wenn alle nur an sich denken. Es sind solche klugen Diagnosen, die nun fehlen werden. Auf seine professionelle Neugierde und präg­nanten Beobachtungen können wir nicht mehr zählen. Es liegt an uns, in seinem Sinne neugierig und wachsam zu bleiben, um unsere gefährdete Demokratie wieder mehr in Schutz zu nehmen und als wertvolles Gut zu achten. Das hätte er dann gerne noch beo­bachtet …

Unkritische Massen als ‚kritische Masse‘

10/11/2016

„Es steht nicht deswegen schlimm in der Welt, weil es zu viel, sondern weil es zu wenig bürgerliche Gesellschaft in ihr gibt.“ (Odo Marquard)

Öffentliche Vernunft verlangt kritisches Denken. Eine offene Gesellschaft muss sich zu sich selbst auf Distanz bringen können, um reflexiv den eigenen Werten und Normen zu begegnen. Dazu braucht es ein Mehr an neuer Bürgerlichkeit, an Mündigkeit des Einzelnen und gesellschaftlicher Teilhabe sowie einer ‚zweiten‘ Aufklärung. Kritische Massen bilden in den Wissenschaften eine Größe, die ein Gesamtsystem wirkungsvoll ver­ändern kann. Unkritische Massen sind – so gesehen – eine „critical mass“, die pluralistische Demo­kratien aus dem Gleichgewicht bringen können, weil sie sich als Öffentlichkeit träge ver­halten und an­fällig für populistische Parolen erweisen.
Offene Gesellschaften leben aber von der Kritik in Form reflexiver Selbstdistanzierung sowohl der Institutionen (Staat) als auch der In­dividuen (Bürger) zu sich selbst. Dies gelingt einer öffentlichen Vernunft, die sich als per­sönliche Urteils­kraft, differenz­ierter Blick und ab­wägendes Han­deln äußert. Unkritische Massen als politische Größe stellen deshalb eine große Gefahr dar, weil es ihnen genau an dieser notwendigen Selbstdistanzierung fehlt. Eine lebendige Zivilgesellschaft aber basiert auf politischer und kultureller Viel­heit, die durch das kluge Zu­sammen­spiel von intelligenten Institutionen und individueller Verant­wortung getragen wird.

Bürgerlichkeit als Inbegriff individueller Freiheit

Odo Marquard hat in seinem Band „Skepsis in der Moderne“ die gegenseitige Macht­be­schränkung der einzelnen Teilsysteme im Staat als wirkungsvolles Mittel be­zeichnet und dafür das anschau­liche und nur auf den ersten Blick irritierende Wort vom „Zugriffs­gedrängel“ ge­prägt. Es sei die Plurali­tät der Wertepositionen, die eine politische Ord­nung und ihre gesellschaftliche Wirklichkeit „indivi­dua­litäts­fähig“ mache:

„Denn individuelle Frei­heit gibt es für Menschen nur dort, wo sie nicht dem Allein­zugriff einer einzigen Alleinmacht unterworfen sind, sondern wo mehrere – vonein­ander unab­hängige – Wirklichkeitsmächte exi­stieren, die – beim Zugriff auf den Einzelnen – durch Zugriffsgedrängel einander wechsel­seitig beim Zugreifen behindern und einschränken.“ (Mar­quard 2007: 52)

Es sind die pluralistischen, die offenen Gesellschaften, in denen Individualität gelingen kann, weil Frei­heit als eigener Interpretationsspielraum entsteht, in dem sich Menschen in all ihrer Wider­sprüchlichkeit als Person erproben und entfalten können, ohne gleich um Leib und Leben fürchten zu müssen. Soweit die Theorie einer politischen Philo­sophie, die Plurali­tät als kulturelle Ordnung denkt. Doch wie sieht die soziale Realität in demo­kratischen Staaten zu Beginn des 21. Jahrhunderts aus? Da komme ich auf Ulrich Beck zurück. Er hat Indi­vidualisierung in der Risikogesellschaft als Thema und Problem ­identifiziert.

In seiner „Ge­sell­schaftstheorie des eigenen Lebens“ (1997, 15) sieht Beck den Ein­zel­nen in einem unauf­löslichen Span­nungs­verhältnis zwischen der Anforderung, ein eigenes Leben führen zu wollen, und den Zu­mutungen gesellschaftlicher Sub­systeme, allen voran die der Wirtschafts- und Arbeitswelt:

„Die moderne Gesellschaft integriert den Men­schen nicht als ganze Person in ihre Funktionssysteme, sie ist vielmehr im Gegenteil darauf an­gewiesen, dass Individuen gerade nicht integriert werden, sondern nur teil- und zeitweise als permanente Wanderer zwischen den Funktionswelten (…) tei­l­nehmen.“ (a.a.O., 10).

Die philosophische Begrifflichkeit klingt anders. Der gesellschafts­politische Sach­ver­halt aber liegt ähnlich: Es sind „individuelle Verantwortung“ und „öffent­liche Vernunft“, die den Einzelnen als mündigen Bürger und den demokratischen Staat als freiheitlich-rechtliche Grundordnung kennzeichnen. Nur so gelingt es, auf Seiten der Institutionen, eine offene und pluralistische Gesell­schaft zu gewährleisten und auf Seiten der Indi­viduen, nicht an den desintegrativen Funk­tions­weisen einzelner Teilsysteme als Person zu schei­tern. Auf keinen Fall darf, den postdemokratischen Zuständen zum Trotz, „der Kon­sument über den Staats­bürger siegen“ (Crouch 2010, 67).

Im Gegensatz zu Mar­quards Skepsis, was die Befähigung des Einzelnen zur Selbstver­ant­wortung anbe­langt und in Ergänzung zu Beck sehe ich in den Kräften des Marktes auch indi­viduelle Entwicklungschancen und die Möglichkeit zu mehr Eigen­initiative, nicht nur im unter­nehmerischen Sinn. Die Frage nach Moralität und Sittlichkeit, die sich in Staat, Ge­sellschaft und Unternehmen gleichermaßen stellt, wird auf den Einzelnen und sein Verant­wor­tungsgefühl heruntergebrochen, weil sie nur so spür- und lebbar wird und wahrge­nommen werden kann. Fragen der richtigen eigenen Lebensführung sind somit eng ver­knüpft mit den gesellschaftlichen Strukturen. Wird dieses individuelle Ge­fühl öffentlich wirksam, weil sich Mehrheiten organisieren, hat es das Potential, zur kritischen Masse zu werden.

Unkritische Massen als ‚kritische Masse‘

„Kritische Masse“ als politischer Begriff ist eine starke Metapher, um Willensbildung in einer frei­­heitlich-demokratischen Grundordnung zu kennzeichnen. Nur wenn auf diesem Weg eine qualitative Mehr­heit entsteht, lässt sich öffentliche Meinung als poli­tische Kraft bilden und for­men. „Kritische Massen“ stellen in den Natur­wissen­schaften eine Größe dar, die ein Gesamtsystem wirkungsvoll beeinflussen oder gar stark ver­ändern können. Un­kritische Massen als ge­sellschaftliche Wirklichkeit können eine solche „Critical Mass“ bilden und bedeuten in Postdemokratien eine große Gefahr, weil sie sich als Öffent­lich­keit träge ver­halten und nicht selten manipulierbar er­scheinen. Aus dieser Ambivalenz von Trägheit und Verführbarkeit resultiert ein prekäres gesell­schaftliches Gleich­gewicht, das politisch immer wieder neu hergestellt werden muss und im fairen Austausch zu ver­handeln ist. Unkritische Massen entziehen sich diesem öffentlichen Diskurs, ja verweigern ihn sogar.

Offene Gesellschaften sind aber durch – genau diese – reflexiven Selbstverständigungs­diskurse geprägt und brauchen das Zusammenspiel aus öffentlicher Vernunft und indivi­dueller Klugheit; d.h. intelligente In­stitutionen gewähr­leisten, dass sich eine Zivilgesellschaft entfalten und der Ein­zelne sein Recht auf Selbst­bestimmung – bei Wahrung der Rechte Dritter – ausüben kann. Dazu müssen Diskussionen initiiert werden, in denen sich eine Ge­sellschaft nicht nur mit sich selbst darüber ver­ständigt, was ihr wichtig und wert ist.
Sondern sie reflektiert auch darüber, auf welchem Weg, sie ihre Ziele erreichen möchte.
Auf diese Weise kann öffentliche Meinungs- und Willens­bildung gelingen, um demo­kratische Mehrheiten zu organisieren und politische Ent­scheidungen zu legiti­mieren. Die Zivil- oder auch Bürgergesellschaft stellt eine ‚kritische Masse‘ dar, weil sich Mehrheits­verhältnisse nicht nur im demokratischen Sinn ver­ändern können, son­dern auch durch ‚veröf­fent­lichte Meinung‘ hochgradig beeinflussbar sind. Da ist öffent­liche Ver­­nunft als Fähigkeit, zu unter­scheiden und zu differenzieren, gefragt. Sich eine eigene Meinung zu bilden, Argumente zu erörtern sowie sich mit unterschiedlichen Ansichten kritisch und kon­struktiv auseinander zu setzen, gehört zum aufgeklärten Bürgertum.

Sen­sationsgesellschaften‘ kennzeichnen sich durch die schnel­­le Er­regung der Massen, die sich medial hochschaukelt, wenn Lebensmittelskandale aufge­deckt, be­kannte Per­sönlich­keiten mit dem Gesetz in Konflikt geraten oder re­nom­mierte Unter­nehmen aus Profitgier Kunden täuschen. Ist die erste Wut in solchen Fällen mehr als verständ­lich, so erstaunt die Kurzlebigkeit der Skandalisierungswelle umso mehr. Hat sich die ver­meintliche Volks­seele erst einmal auch medial Luft verschafft, scheint sie wenige Wochen später in den gleichen Arbeits- und Konsumtrott zurück­zufallen, bis der nächste Skandal die Print-Schlag­zeilen oder sozialen Medien elek­trisiert.

Dieser ebenso typische wie problematische Verlauf von Skandalen in einer post­modernen Mediendemokratie muss deutlich unter­schieden werden von jenen „unkriti­schen Massen“, die sich populi­stischen Parolen gegenüber anfällig zeigen und in der Summe politischen Positionen Raum geben, die mehr und mehr nicht nur Minder­heiten diskriminieren, sondern auch die De­mo­­­­­kratie gefährden. Es fällt auf, wie wenig es gegenwärtigen demokratischen Ordnungen ge­lingt, ihr eigenes Wertefundament zu begründen und es gegen diese Ein­dimensionalitäten zu verteidigen. Die Anfälligkeit für einfache politische Parolen ist groß. Es braucht eine Diskussion um politische Normen, in der eine streitbare Demokratie bewusst zu sich selbst auf Abstand geht; denn öffentliche Vernunft ist Ausdruck eines Selbstverständi­gungs­­diskurses, der bei der „Vielzahl von Wirklichkeits­potenzen“ (Marquard) nicht nur re­flek­tiert Distanz hält, sondern auch sich selbstkritisch, offen und lern­fähig zeigt.

Individuelle Verantwortung – neue Bürgerlichkeit?

Mittlere Reichweiten‘ hat Dahrendorf vorgeschlagen, um sich als Bürgergesellschaft sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht klug zu verhalten und verantwortlich zu fühlen[1]. Das „Wir“ als Volk ist als eine Gemeinschaft des Rechts zu denken, das be­stimmte Frei­heiten teilt. Es ist kein homogen gewachsenes Kollektiv, das sich auf eine gemeinsame Her­kunft berufen könnte. Populismus hingegen kann als (völlig) über­triebene Nabelschau er­achtet werden, dem genau diese kritische Selbstdistanzierung fehlt, weshalb das vermeint­lich ‚Eigene[2] zu sehr in den Fokus rückt und den Blick verstellt.
Populismus ist, wenn aus Angst Dummheit wird oder anders gefragt: wie kann aus einer An­sammlung intelligenter Menschen plötzlich eine Menge von Idioten werden?

Die ‚kritische Masse‘ ist es aber auch, die eine Bürgergesellschaft in positiver Hinsicht kenn­zeichnen kann. Nur wenn die Lebensführung Einzelner zu einer mehrheitsfähigen Be­we­gung wird und gewaltfrei auf die Willensbildung Einfluss nimmt, können sich demo­kratische Ver­hältnisse ändern. Das inzwischen kritisch reflektierte Wort der deut­schen Kanzlerin aus dem Spätsommer 2015 „Wir schaffen das!“ ist nur ein Beleg für die Selbst­aktivierungskräfte einer Zivilgesellschaft, um geflüchtete Menschen in Deutsch­land nicht nur will­kommen zu heißen, sondern auch, was noch zu beweisen ist, auf längere Sicht in die Ge­sell­schaft zu inte­grieren. Wir haben, so Finanz­minister Schäuble, ein ‚Rendezvous mit der Globali­sierung‘ – ob wir nun wollen oder nicht.

Ohne dass wir es intendiert hätten, sind wir wieder eine Art „Aufbruchsgesellschaft[3] mit allen damit verbundenen Vor- und Nachteilen geworden. Es ist der sog. „dritte Sektor“, also der Be­reich des ehren­amt­lichen Engagements, ohne den nicht nur die Frage der Integration der Migranten unbeantwortet bliebe, sondern auch kein Vereinsleben und viele anderen Bürger­initiativen, öffentliches Leben konstruktiv zu ge­stalten, funk­tionieren würden. So schwankt die Einschätzung der kritischen Masse zwischen dem eher ‚emphatischen Zivil­gesellschaftsbegriff‘ (Aarenhovel 2000: 55), einer norma­tiven Vorstellung von ‚Civic So­ciety‘, die eine weiter wach­sende Demokratisierung und mehr soziale Partizipation sowie ein vitales Gemeinwesen propa­giert. Auf der anderen Seite steht die moderate Variante – ein deskriptiver Begriff der ‚Civic Society‘ -, die in den meisten westlichen Industriestaaten bereits weitgehend erfüllt zu sein scheint.

Sie lässt sich ablesen an der Anzahl an Bürgerinitiativen (Vereinen), gemeinsamer Gemein­dearbeit, freiwilligem sozialen Engagement und vielen ad-hoc Bewegungen, um das Mit­einander zu stärken (bis hin zu den neuen Beteiligungsformen in den sozialen Medien). In diesem Spannungsfeld eines „experimentellen Wir“ (Bude 2015: 20) be­wegen wir uns auch in der Postdemokratie, in der sich die Ge­sellschaft als Ganzes immer wieder über sich selbst ebenso positiv erstaunt wie tief er­schreckt. Allein die Kommunikation in den neuen sozialen Medien, wie Facebook, Twitter und Co zeigt diese Zerrissenheit und die sich ver­schärfende Tonlage.

Da brennen 2015 Flüchtlingsheime an vielen Stellen in Deutschland in nicht hinnehmbar hoher Zahl und an den gleichen Orten wird eine beispiellose Hilfsaktion gestartet und große Soli­darität gezeigt. Da kommt es zu massenhaften Übergriffen gegenüber Frauen an Silvester, die in keiner Form zu dulden sind, doch gleichzeitig nimmt die Schutzbedürftigkeit vieler geflohener Menschen zu, insbesondere der Kinder und Jugendlichen. Da hat man auf der einen Seite das unge­heure Arbeitsmarktpotential junger Migranten und auf der an­deren Seite eine gewaltige Integrations- und Bildungsaufgabe in einem für Deutschland seit langem nicht mehr gekannten Ausmaß, auch aufgrund der Plötzlichkeit, in der diese Her­aus­forderungen zu meistern waren und immer noch sind.
Nach Attentaten wie in Paris, Brüssel und Nizza wird emotional verständlich, aber politisch vorschnell nach mehr öffentlicher Sicher­heit gerufen und einem Überwachungsstaat populi­stisch der Boden bereitet, obwohl uns inzwischen allen klar sein dürfte, dass der westliche Lebensstil, den wir schätzen, auf genau jener gesellschaftlichen und privaten Offenheit und einem inter­kulturellen Aus­tausch beruht, gegen die sich dieser Terror richtet. Das sind nur einige der Paradoxien, mit denen eine pluralistische Gesellschaft, die ihre Freiheitsgrade zu verteidigen sucht, umzugehen lernen muss, soll es keinen Rückfall in überkommene restrik­tive politische Ordnungen geben, wie wir ihn in einigen Teilen der Europäischen Union (EU) sowie Südosteuropas augen­­blicklich erleben.

Umgang mit Kontingenz – eine bürgerliche Tugend?

Um mit diesen Unsicherheiten (Kontingenz) leben zu lernen, ist öffentliche Vernunft gefragt, die sich in unterschiedlichen Formen artikuliert. Sie äußert sich in Aner­ken­nung und Mäßi­gung, wenn es darum geht, aus­ländische Mitbür­gerinnen und Mitbürger nicht über einen Kamm zu scheren. Sie zeigt sich als Urteilskraft in einem dif­ferenzier­ten Blick, wenn es gilt, Dinge aus­einander zu halten, die nur auf den ersten Blick scheinbar etwas miteinander zu tun haben. Nur die wenigsten Korrela­tionen in der Gesellschaft stellen auch eine Kausa­lität dar. In den meisten Fällen haben sie nicht viel – außer ihrer Gleich­zeitigkeit – gemein: Ar­beitslosenquote und die Zahl der im Land lebenden Ausländer; Migrationswelle und stei­gende Kriminalitätsrate oder – auch nach München – Mediennutzung (Computerspiele) und Gewaltdelikte. Öffentliche Vernunft schließlich artikuliert sich aber vor allem in der „Gegen­wart der Zukunft“, im Diskurs über die alle Lebens­bereiche betreffende Frage: „wie müssen, können und wollen wir leben?“ (Beck)[4]

Becks Frage lässt sich pragmatisch beantworten, in dem nach den spezifischen Wech­sel­wirkungen zwischen Bürger­lichkeit, vor allem in Form ihrer gesellschaftlichen Eliten, und Staatlichkeit zu suchen. Dabei geht es mindestens so sehr um individuelle Pflich­ten, die der Ein­zelne wahrzu­nehmen hat, wie es um persönliche Rechte geht, auf die zu pochen wir alle inzwischen gelernt haben. Öffentliche Vernunft thema­tisiert die zeitliche und räumliche Reichweite individueller Verantwortung, stellt die Frage nach der Be­gründbarkeit von Handlungen, sucht nach gerechtfertigten Verhaltensweisen, um dadurch einen Unterschied in der Qualität von Entscheidungen zu machen. Dieses eher prozessurale Verständnis von Vernunft setzt bei der persönlichen Lebensführung des Einzelnen an, nimmt sie ernst, aber bleibt skeptisch und weiß um die Widersprüchlichkeiten, die eine Gesellschaft bewegen.

„In einer Postdemokratie, in der immer mehr Macht an die Lobbyisten der Wirtschaft übergeht, stehen die Chancen schlecht für egalitäre politische Projekte zur Um­verteilung von Wohlstand und Macht (…).“ Crouch 2010, 11)

Es ist der Zweifel, der die Vernunft ehrt und von dem Demokratie lebt: Misstrauen ist die erste Bürgerpflicht. Als Citoyen müs­­sen wir vieles bezweifeln, um so das Ganze umso mehr bejahen zu können. Wir können als Bürger unsere Macht steigern, wenn wir uns individuell die Hände binden. In einem solchen Verständnis ist dann auch Bürokratie zivilgesellschaft­lich von Vorteil.
Da wir nicht wissen können, also zweifeln müssen, ob die Mehrheit Recht hat, tun wir gut daran, „die Chance der Minderheit, selbst Mehrheit zu werden“ offen zu halten und demo­kratisch zu gestalten (Kiel­manns­egg 2013). Prinzipielle Voraus­setzungen dafür sind: Skepti­zismus als pragmatische Erkenntnisform, um Para­­doxien in den allge­meinen gesellschaft­lichen Handlungsstrukturen zu erkennen und ein – daraus resul­tieren­der politischer Ekklekti­zismus, der zu einem kritischen Denken „Critical Thinking“ führt, das Auf­klärung als Projekt reflexiv weiterdenkt und immer wieder auf sich selbst bezieht. Das Nein zur eigenen Wahr­nehmung zu denken, ist dem wesentlich.

Vielheit als Wert

Marquards sprachliches Wortspiel vom „Zugriffsgedrängels“ heißt in der philo­sophi­schen Begrifflichkeit „Dissens­ermöglichungspluralismus“ (Zimmerli 1993), und sieht in der Werte­vielfalt keinen Relativismus, sondern eine ehrliche Auseinander­setzung um tragbare Lö­sungen im kulturellen Miteinander und im demokratischen Ringen um die besten Ideen, um das Miteinander ver­ant­wort­lich zu gestalten. Offene Gesellschaften nehmen unter­schied­liche Denk- und Glaubens­richtungen, Kulturen und Weltanschau­ungen als Gewinn und Bereicherung wahr. Sie schätzen die Vielfalt der Lebensformen, auch wenn es nicht einfach ist, die übergreifende politische Klammer zu bilden. Vielheit als Wert zu erachten und den Willensbildungsprozess demokratisch zu ge­währ­leisten, kennzeichnet offene Gesell­schaften, die den Diskurs um Werte lebendig halten.

„Ein neues Bürgertum wird beschworen, eine neue Bürgerlichkeit postuliert.“[5] Verbirgt sich, so lautet abschließend die generelle Frage, hinter der bürgerlichen Idee ein ernst­zu­nehmender Lebensentwurf, ein Ansatz zur Weiter­entwicklung der Gegenwartsgesellschaft? Es braucht noch einen dritten Prota­gonisten, der uns alle, die wir Gesell­schaft denken, begleitet, um den theoretisch-kritischen Erkenntnisbogen ganz aufzuspannen. Es ist eine Aussage Habermas zum wieder­ver­einigten Deutschland kurz nach der Wende, die aber auf nahezu alle westlichen Demokratien gegenwärtiger Prägung über­tragen werden kann:

„Man weiß nicht Recht, ob sich in dieser Kulturgesellschaft nur die kommerziell und wahlstrategisch „missbrauchte Kraft des Schönen“, eine semantisch aus­gelaugte, privati­stische Massenkultur spiegelt – oder ob sie den Resonanz­boden für eine revitali­sierte Öffentlichkeit darstellen könnte, auf dem die Saat der Ideen von 1789 aufgeht!“ (Haber­mas 1992: 69)

Die übergreifende Idee liegt demnach in einer „zweiten Aufklärung“, die demo­­kratische Gesellschaften zu benötigen scheinen, weil sich die naiven Fortschrittshoffnungen der ersten Moderne nicht bewahrheitet haben und sie der Ambi­valenz politischen Handelns begegnen müssen. Das „Projekt der Moderne“ (Habermas) ist nicht vollendet, sondern braucht ein Mehr an neuer Bürger­lichkeit, im Sinne von informierter Mündigkeit, kritischer Haltung (z.B. zum Konsum) und gleich­berechtigter Teilhabe an Gesellschaft sowie einem neuen Ver­ständnis von Nachhaltigkeit als Handlungsleitlinie, um wieder alle Lebens­bereiche des Einzelnen in der Gemeinschaft zu um­fassen. Ähnlich differenziert, aber kritischer sieht das Nachtwey (2016).
In der regressiven Moderne gäbe es horizontal durchaus noch kulturelle Fortschritte, z.B. gleiche Rechte für unterschiedliche Lebensformen und auch mehr gesellschaftliche Toleranz für kulturelle Vielfalt. In der Vertikalen aber würde die soziale Ungleichheit zunehmen – und die Moderne sei als „Postwachstumsgesellschaft“ zunehmend „regressiv“.[6]

Selbstverständigung braucht Selbstdistanzierung

Beck hat diesen Prozess ‚reflexive Modernisierung‘ genannt. Ich spreche von er­wei­terten Selbstverständigungsdiskursen, die eine lebendige Zivil­gesellschaft zu führen hat. Darin wird auch das Sittlich-Nor­mative an „individueller Verant­wortung“ sichtbar: Der Einzelne hat sich der Aufgabe, Bürger eines Staates zu sein, immer wieder neu zu stellen, damit sich Politik eben nicht in Marktkonformität (Habermas) auflöst. Je mehr er oder sie zu den Eliten eines Landes gehört, umso größer ist sie, diese Ver­antwortung, die stets den Ausgangspunkt für jede Form des Handelns darstellt.

Diese Verantwortung manifestiert sich in intelligenten Institutionen[7], die als Bürokratie im Sub­sidiaritätsprinzip in positivem Sinn von Personen und ihren Partikularinteressen absehen und auf Distanz gehen: Sie initiieren den Markt über Eigentumsrechte und Vertragsregeln, stabilisieren ihn in Form der Steuer- und Finanz­politik und regulieren die Marktwirtschaft durch eine sozial und ökologisch ausgewogene Gesetzgebung. Darin drückt sich das Primat der Politik aus, das einer rein marktkonformen Demokratie widerspricht. Wenn wir die Machtfrage stets zugunsten der Bürgergesellschaft ent­scheiden, definieren wir zugleich, so Biedenkopf, ihren freiheitlichen Gehalt. Die Zivilgesellschaft wäre dann nicht nur der dritte Sektor, sondern – nachdem die Medien mehr und mehr als ‚vierte Gewalt‘ enttäuschen – neben Staat, Wirtschaft und Privatsphäre der „vierte Raum“ (Brandt 2016), in dem wir uns in der Polis bewegen.

Öffentliche Vernunft bringt sich neben den rechtsstaatlichen Prinzipien, der Gewal­ten­teilung und den Medien auch in den pluralistischen Wertvor­stellungen und in einem auf Humanität angelegten Bildungsideal zum Aus­druck. Wissen als „lernbereite Erwartung“ kennzeichnet eine weitere Form von Ver­nunft. In dieser Form achtet sie auf Rever­si­bilität und Fehlerfreundlichkeit in der Be­wertung technologischer Inno­vationen, ganz in der Tradition des Nicht-Wissens von Hans Jonas. Schließlich artiku­liert sie sich in dem leben­digen, aber gewaltfreien Wider­­streit politischer Ideen und Meinungen als Diskursethik, die sich in ihrer Umsetzung – und das ist  neu – der Nach­haltigkeit verpflichtet fühlt (im Sinne der „triple bottom line“ von J. Elkington 1997).

Of­fene Gesellschaften leben von diesen Selbstverständigungsdiskursen. Jeder von uns ent­scheidet über die Qualität der öffentlichen Vernunft mit, in dem er seiner indivi­duellen Verant­wortung versucht gerecht zu werden; d.h. genügend Distanz zu sich selbst aufzu­bringen, um nicht nur sich selbst zu sehen. Und wir müssen uns darüber im Klaren sein, dass diese Diskurse nicht enden;
d.h. auch dieses Buch kann nur wieder einen weiteren Beitrag dazu leisten, uns über unsere Werte miteinander zu verstän­digen und die Bitte äußern, darin nicht nachzulassen, sondern eher noch die Be­mühungen zu verstärken; denn sich ins Gespräch zu begeben und sich in Frage zu stellen ist ein guter Anfang. Und so ende ich mit einem Zitat von Richard Sennett, das unsere aktuelle Problematik als bürgerliche Gesell­schaft im Umgang mit den geflüch­teten Menschen auf den Punkt bringt, aber gleichzeitig zeigt, wie es gehen kann:

„Mangelnder Respekt mag zwar weniger aggressiv erscheinen als eine direkte Belei­digung, kann aber ebenso verletzend sein. Man wird nicht beleidigt, aber man wird auch nicht beachtet; man wird nicht als Mensch angesehen, der etwas zählt (…). Dies macht Respekt zu einem knappen Gut. (…) Respekt kostet nichts. Insofern stellt sich die Frage, warum auf diesem Gebiet Knappheit herr­schen soll.“ (Sennett 2002:15)

Respekt, und dies durfte ich von Adolf Muschg lernen, ist immer auch ein Anfang von Kultur[8].

Fazit und Ausblick – ‚Macht auf Zeit, Verantwortung auf Dauer‘

Gemeinsame Lernfähigkeit wird somit zu einer der größten Tugenden bürgerlicher Gesell­schaft. Sich durch die politische und kulturelle Aufklärung darüber zu verständigen, auf welch‘ kontingenten Entstehungsbedingungen Demokratien fußen[9] und welche zukünftigen Entwicklungsmöglichkeiten zur Wahl stehen, macht bewusst, wie fragil und unsicher die eigene politische Ordnung ist. Wie könnte die nächste Gesellschaft aussehen? Klar ist nur, dass eine allzu nervöse Selbstbeobachtung, in der Partikularinteressen den Ton angeben, nicht wirklich hilfreich ist, weil sie den Blick verstellt. Verengte Nabelschau führt selten zu ab­wägendem Urteilsvermögen und klugem Handeln. Die Vorläufigkeit in der Politik bezieht sich auf Macht, nicht auf die damit einhergehende und daraus resultierende Verant­wor­tung. Urteilskraft zeigt sich dann auch darin, das Wesentliche und das Neue unter­scheiden zu können und sich politisch der Frage „Wozu?“ zu stellen.

Der skeptische Bürger bleibt auf Distanz, zu öffentlichen Institutionen und Politik, zu neo­liberaler Markt­wirtschaft und Kapitalismus, zu Religionen und Ideologien – aber vor allem zu sich selbst. Diese Form von Selbstkritik, in der wir uns ernst, aber nicht zu wichtig neh­men, ist eine zu lernbereite Eigenschaft, die wir als Mensch und Bürger nicht genug pflegen können. Marquard[10] hat uns als „primäre Taugenichtse“ beschrieben:
sich deshalb selbst immer wieder in Zweifel zu ziehen, ist kein schlechter Anfang für eine ‚neue Bürgerlichkeit‘. Und eine gute Basis für eine lebendige Demokratie.

Literatur

Arenhövel, M.: Zivilgesellschaft – Bürgergesellschaft, Wochenschau II, Nr. 2, März/April 2000, S. 55–64.
Beck, U.: Risikogesellschaft, Frankfurt a.M., 1986
Ders.: Eigenes Leben, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29, 2001
Ders./Giddens, A./Lash, S.Reflexive Modernisierung, Frankfurt a.M., 1996
Biedenkopf, K.: Sehnsucht nach Freiheit, in: www.handelsblatt.com/meinung vom 05.07.2013.
Böckenförde, W.: Die Entstehung des Staates …, 1967. Zit. nach M. Ingenfeld: Das Wagnis der Freiheit, Vortragsmanuskript 2009
Brandt, A.: Zivilgesellschaft in postdemokratischen Zeiten. In: Archiv für Niedersachsen 1 (2016)
Bude, H.: Das Gefühl der Welt. Über die Macht von Stimmungen, München 2016
Cohen, D.: Unsere modernen Zeiten. Wie der Mensch die Zukunft überholt, Frankfurt a.M. 2001
Crouch, C.: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2009
Elkington, J.: Cannibals with forks, London 1999
Habermas, J.: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Frankfurt a.M. 1981
Ingenfeld, M.: Das Wagnis der Freiheit. Das Böckenförde-Diktum und seine Implikationen für eine moderne Demokratie, Redemanuskript 2009
Ismayr, W.: Der deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012
Jonas, H.: Das Prinzip Verantwortung. Eine Ethik für das technologische Zeitalter, Frankfurt a.M. 1979
Kielmansegg, P.: Die Grammatik der Freiheit, Baden-Baden 2013
Marquard, O.: Skepsis der Moderne, Stuttgart 2007
Ders.: Abschied vom Prinzipiellen, Stuttgart 1981
Nachtwey, O.Die Abstiegsgesellschaft, Frankfurt a.M. 2016
Plumpe, W.: Stichwort: Neue Bürgerlichkeit? Tragödie und Farce, in WestEnd – Neue Zeitschrift für Sozialforschung Heft 1, 2009, S. 101-106
Sennett, R.: Respekt in Zeitalter der Ungleichheit, Frankfurt a.M. 2002
Wolf, S. / Marquering, P. (Hg.): Unkritische Massen?, Berlin 2016
Zimmerli, W. Ch.: Einmischungen, Darmstadt 1993
Ders.: Die Zukunft denkt anders. Wege aus dem Bildungsnotstand, Frauenfeld 2006
Ders./Wolf, S. (Hg.): Spurwechsel. Wirtschaft weiter denken, Hamburg 2006

[1] Vgl. hierzu Zimmerli/Wolf 2006. Sir Ralf Dahrendorf plädiert in seinem Vortrag, den er an der Volkswagen AutoUni gehalten hat, für ein gesellschaftliches Verant­wor­tungs­gefühl, insbesondere bei Eliten, das innerhalb bestimmter zeitlicher als auch räumlicher Reichweiten wahrge­nommen wird, a.a.O. S. 171ff. Marquard nennt es „vorläufiges Denken“.

[2] ) Als Anmerkung sei erlaubt, dass es keiner rechtspopulistischen Bewegung in Europa, weder in der Schweiz, noch in Frank­reich, Deutsch­land, Österreich oder den Niederlanden gelingt, auch nur ansatzweise das „Eigene“ zu defi­nieren, außer im Rückgriff auf rassistische Ausgrenzungen, die sowohl in zeitlicher als auch räumlicher Hinsicht völlig beliebig, also kontingent, erscheinen. Auch den autokratischen Populisten in Russland, Ungarn und jetzt auch in der Türkei und Polen fehlt es zwar nicht an fremdenfeindlichen Parolen, aber an Argumenten.

[3] Vgl. hierzu Cohen 2001. Damit kennzeichnen die Sozialwissenschaften gesellschaftliche Situationen, in denen außer­ordentliche Aufbau- oder Integrationsleistungen gefordert sind und erbracht werden. Für eine bestimmte Phase wird nahezu alles den ge­mein­samen Zielen untergeordnet, so z.B. in Deutschland nach dem II. Weltkrieg, in Frank­reich Anfang der 60er Jahre, als viele Franzosen aus Nordafrika im­migrierten. Auch die deutsche Wiedervereinigung 1990 kann als eine solche Situation betrachtet werden. Nun steht die EU vor einer ähn­lichen Herausforderung und ist als bürgerliche Öffentlichkeit gefordert …

[4] ) Vgl. hierzu Beck „Die experimentelle Republik“ in: Süddeutsche Zeitung v. 13.11.1998. Zimmerli nennt die Frage selbst: „Welche Zukunft wollen wir?“, um Wünsche, Hoffnungen, aber auch Befürchtungen und Ängste, die mit Zukunft eng zu­sam­men hängen, zur Sprache zu bringen.

[5] ) Vgl. hierzu Plumpe, Werner: Stichwort: neue Bürgerlichkeit? …, in: WestEnd, Heft 1 2009, 101.

[6] ) Vgl. hierzu Nachtwey 2016: Der Marktbürger, so resümiert er, sei im Grund kein Bürger mehr, sondern ein Kunde mit Rechten (Rückseite des Buches).

[7] ) Das sog. IvI-Gap thematisiert die Kluft zwischen Institutionen und Ideen. Natürlich sind wir uns darüber im Klaren, dass In­stitutionen ihre Macht missbrauchen können und alles andere als das Wohl und die Freiheit des Einzelnen im Blick haben. Auch hier gilt es klug zu agieren und von Institutionen immer wieder Transparenz zu fordern und politisch Kontrolle auszuüben.

[8] ) Adolf Muschg in seinem Vortrag zum Konzernwert „Respekt“ an der Volkswagen AutoUni 2005, abgedruckt in: Zimmerli/Wolf 2006, S. 249f.. Toleranz kann einfach nur Erlaubnis, im Sinne von Zulassen, bedeuten oder Koexistenz, also friedliches Nebeneinander. Sie kann aber auch Respekt und Wertschätzung meinen. Auch hier ist es wichtig zu unterscheiden, wovon wir sprechen, wenn wir von ‚Vielheit als Wert‘ reden.

[9] Vgl. hierzu das sog. Böckenförde-Theorem, wonach Demokratien die Fundamente, auf denen sie aufbauen, weder legitimieren noch gewährleisten können, sondern voraussetzen müssen.

[10] ) Dieser Text basiert auf der Einleitung, die ich für die Festschrift zum 75. Geburtstag meines Doktorvaters. Prof. Dr. Dr. h.c. Walther Ch. Zimmerli, verfasst habe und die unter dem Titel „Unkritische Massen?“ 2016 beim LIT-Verlag erschienen ist (Paul Marquering als Mitherausgeber). Marquard und Beck waren Weggefährten Zimmerlis, die beide auf den Bam­berger Hegelwochen als Redner ge­sprochen haben. Das ist deshalb bemerkenswert, weil diese Veranstaltungsreihe, die Zimmerli 1990 ins Leben rief, Philo­sophie in die Stadtöffentlichkeit (als eine Form der Bürgerlichkeit) trug und zum öffent­lichen Diskurs anregte. Beide Denker sind 2015 gestorben und konnten an der Festschrift nicht mitwirken. Auf diese Weise habe ich sie zumindest etwas zu Wort kommen lassen.
Auf diesem Weg sei auch noch Anna-Mitschka Dietrich, Wolfgang Ismayr und Arno Brandt gedankt, die sich die große Mühe gemacht haben, den Text kritisch zu lesen und mir mit vielen Hinweisen mehr als hilfreich zur Seite standen.

Das Kursbuch wird 50 – Warum Kritik das größte Geschenk zum Geburtstag ist

15/7/2015

Auch wenn es – bei genauer Chronik – keine 50 Jahre sind, weil es Unter­brechungen gab, erschien das erste Kursbuch 1965 und bietet Anlass, das Magazin zu feiern. Seit 2012 erscheint es nun beim Hamburger Murmann-Verlag, der keine Mühe scheut, an die legen­dären – oder wie sie Heinz Bude in seiner kri­tischen Würdigung am 10. Juni im Miramar-Haus nannte – „heroischen Tage des Kursbuches“ anzuschließen. Hero­isch war, sich zu einer teil­nehmenden Kritik an Gesell­schaft zu be­kennen, Position zu beziehen und als Experiment mit Aus­wirkun­gen auf die Lebens­welt der jungen Bundes­republik zu verstehen. Bude geht so weit, zu behaupten, dass es die junge (Nach-)Kriegs­generation war (die „Flak­helfer“, die 1945 mit 15 Jahren an der Heimatfront auf ver­lorenem Posten standen, wie z.B. Enzens­berger, aber auch Haber­mas), die die Thesen der 68’er formuliert und sich die APO-Be­wegung als Sprachrohr angeeignet hat. Auf seinen Vorschlag, dass wir als Boomer-Generation nun Ähnliches mit der Generation Y (X oder Z) versuchen sollten, komme ich zurück.

Bude empfiehlt dem Kursbuch einen „ethischen Experimentalismus“, um das offen­sichtliche Theorievakuum vielleicht nicht ganz zu füllen, aber wieder deutlich zu ver­kleinern. Armin Nassehi, Soziologe aus München und Mit-Herausgeber neben Peter Felixberger, fragte in der Diskussionsrunde zu Recht, warum wir es gesellschaftlich nicht mehr wagen, das Ganze zu denken? Budes sozialpsycholo­gische Antwort: Die Kriegs­generation wollte ver­gessen und verdrängte die schmerzlichen Er­fahrungen des III. Reichs mit einem kategorischen Schlussstrich: „Schlimmer kann es nicht kommen“ – totale Kapitulation und der schrecklich­ste Völkermord aller Zeiten. Nachkriegsdeutsch­land verfolgte deshalb das geschichtslose Projekt „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Gesellschaft“ – und das Kurs­buch gab ab 1965 für die außerparlamentarische Opposition Richtung und Inhalt vor.

Auch ohne Sozialpsychologie und Flakhelfer-These trifft die Diag­nose: in der BR Deutschland sollte es eine durch Theorie auf­geladene Gesellschaft ge­ben, die ge­schichts­vergessen einfach an jene demokratischen Werte an­schloss, die als allgemein gültig proklamiert wurden. Das war jener ‚Verfassungspatriotis­mus‘, der sich auf univer­salistische Prinzipien und nicht auf historische Kontingenz berief. Diese Theorie­gläubig­keit erscheint heute wie aus der Zeit gefallen. Dies zeigt sich auch darin, wie befremdet einige Autoren des aktu­ellen Kursbuches 182 (Das Kursbuch. Wozu?) auf ihre eigenen Texte rea­gierten, als sie gebeten wurden, diese „weiterzuschreiben“. Als kämen sie aus einer anderen Welt, in der man Realitäten noch durch Worte her­bei­reden konnte.

Aber Bude weist zu Recht darauf hin, dass es eine „ethische Gram­matik“ gibt, und sich das Kursbuch um eine solche Sprache bemühte und wieder bemühen sollte. Es fehlt ja nicht an Beo­bachter­n – im Gegen­teil, es sind zu viele, die zu oft in Diskursen nicht zur Klärung, sondern nur zur Steigerung der Kom­plexität beitragen. Natürlich ist es richtig, auf die Kontingenz von Unterscheidun­gen hinzuweisen, aber – und da wurde Bude nicht müde zu betonen – das hat für unsere eigene Lebens­führung und die Frage „Was ist ein gutes Leben?“ keine unmittelbare Relevanz.

Gesellschaftliche Praxis braucht auch die Behauptung, das moralische Argument und Antworten auf die Frage, was richtig oder falsch ist. Natürlich darf eine öffentliche De­batte diese Fragen nicht naiv beantworten und sich auch nicht „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>blind“ normativen Prin­zipien anvertrauen.

Aber etwas mehr Arbeit am Begriff würde dem Kurs­buch gut tun, um wieder stärker mit den Lebenswelten verschränkt zu sein. Da hilft Nassehis Hinweis auf ‚Ge­lassenheit als Erkenntnismittel‘ nur bedingt. In einigen Fragen braucht diese Gesell­schaft mehr davon (um z.B. mit Migrationsfragen unaufgeregter umzugehen), aber in vielen anderen Fra­gen grenzt Gelassenheit an Aus­rede, sich nicht weiter mit gesell­schaftlichen Themen befassen zu müssen bzw. in der Beobachterecke zu bleiben oder noch eine weitere Betrachtungsebene einzuziehen. Darin ist das Kurs­buch stark, es liest sich gut, bleibt aber ohne Konsequenz: der Kontingenz wird außer Kom­plexitäts­kon­templation nichts entgegnet. Dann kann sich jeder Lesende wieder in seinen eigenen Kosmos zurück­ziehen und das große Ganze sein lassen. Mein Fazit lautet: Die Distanz ist zu groß. Nur über die Gesellschaft gebeugt zu sein und mal gelehrig mal gelas­sen zu kommentieren, greift für das neue Kursbuch zu kurz. Es muss raus aus der selbst gebauten Vielfalts­falle. Zum Ge­burts­tag wünsche ich mir mehr intervenierende Gesell­schafts­kritik.

Wie das gehen kann, regt eine Idee des ausgezeich­neten Abends, der als kleiner Fest­akt für ein großes Magazin fungierte, an. Bude zitierte aktu­elle empirische Studien über die Generation X/Y/Z, die belegen, dass es der Jugend um Ver­bindlichkeit in der Ver­netzung geht. Natürlich nicht in jedem „link or like“ der sozialen Netze, aber sie wollen auch aus wichtigen Verbindungen wirkliche Ver­pflich­tungen machen. Entstehen aus diesen neuen sozialen Formaten des Wir-Gefühls, das wir auch Gesellschaft nennen können, neue Lebensformen? Wie könnte sich dieses neue soziale Miteinander weiter entwickeln? Und können wir Boomer-Generation, so Budes Vorschlag, jetzt die Jugend zu unserem Sprachrohr machen, um die Frage nach einem guten Leben wieder mit guten Theorien zu verbinden? Nicht auf einen Schlag und auch nicht mit ideologi­sch vernagelten Ideen, aber mit einem kritischen Denken, das sich wieder erlaubt, Perspek­tive mit Po­sition zu verknüpfen und einen Standpunkt einzunehmen.

Das Kursbuch wäre zurück an den Wurzeln und wieder mitten im Diskurs um Indivi­dualität und Gesell­schaft, der nicht darin endet, dass wir unsere Unterscheidun­gen problematisieren, sondern da­zu führt, dass wir klug streiten. Klug meint, auf die Frage, wie wir unser Leben führen wollen, Antworten zu finden, die für uns als Einzelne Sinn machen, ohne die ge­sellschaft­liche Bedeutung außer Acht zu lassen. Im Gegen­teil, was Sinn macht, muss sich wie­der viel mehr an der Frage „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Wozu bist du gut?“, dem Gemeinwohl, orientieren und darf nicht vor­dergründig auf dem Bazar der Parti­kular­interessen verhandelt werden. Es strengt an, gerechtfertigte Ansprüche von aufmerk­samkeitsheischenden Er­regungs­zuständen zu unterscheiden, – was unseren Medien meines Erachtens immer weniger gelingt -, aber es lohnt sich; denn in einer individu­alisierten Gesellschaft ist nichts dringender als kluge Antworten auf die Frage nach der richtigen Lebensführung. Erste These ist: Un­sere Selbstverständigung darüber, wie wir leben wollen, ist von der Frage nach einer guten Gesellschaft zu unterscheiden, aber nicht zu trennen.

Wer sich um Differenz bemüht, steigert Komplexität. Das haben wir in unseren öffent­lichen Diskursen zur Genüge strapaziert. Nun wäre es an der Zeit, das Verbindende in der Vielzahl der Möglichkeiten zu suchen und gemeinsam zu erarbeiten. Dafür braucht es intellektuelle Institutionen, wie das Kursbuch eine sein könnte. Bude erzählte am Ende von einer Geburtstagsfeier eines Politikers, der nicht mehr aktiv ist. Dieser fragte ihn, warum es in unserer Gesellschaft so wenig gemeinschaftliche Zuversicht gebe? Ein Teil der bitteren Wahrheit liegt darin, dass wir uns um das große Ganze nicht küm­mern wollen, weil es mühsam ist, sondern lieber in unseren kleinen Par­zellen des eigenen Lebens bleiben – ganz so, als ob das Private nicht politisch wäre.

Wie kluge Wege aus den einzelnen Kontexten wieder hinausführen und auf ein Ge­meinsames hinweisen, das könnte das Kursbuch wort­gewandt erörtern und bildge­waltig zeigen – und so neue gesellschaftliche Zuversicht an­regen. Das wäre ein Geschenk.

Stefan Wolf

Der Autor hatte Gelegenheit am 10. Juni an der Jubiläumsveranstaltung „50 Jahre Kursbuch“ im Mur­mann-Verlag in Hamburg teilzu­nehmen. Nach einem Vortrag von Prof. Dr. H. Bude zum Thema „Schön neutral. Die heroischen und die weniger heroischen Tage des Kursbuchs“ gab es ein Podiums­gespräch zwischen Prof. Bude und den beiden Herausgebern Prof. Dr. A. Nassehi und Dr. P. Felix­berger. www.kursbuch-online.de

Eigenes Leben – Aufklärung 4.0

11/5/2015

Identität als offener Bruch

„Es geht nicht auf!“ So bilanziert sich die ernüchternde Erkenntnis, wenn wir unser Lebens­gefühl in der ‚Postdemokratie‘ (Crouch) auf den Punkt bringen sollen. Gleich­ in welcher Hinsicht wir uns denken: als mündige Bürger, kritische Kon­su­menten oder beruflich Tätige – in keiner dieser gesellschaftlichen Funktionen geht die Gleichung auf, sondern unsere persönliche Iden­tität bleibt als offener Bruch zurück: Leben im 21. Jahr­hundert heißt in erster Linie, seine Haut unablässig zu Markte zu tragen, sich per­manent im Wettbe­werb anzubieten. Diese ständige Profilierung und Verfügbarkeit ver­langt zu viel. Der Kon­sum­­kapitalismus ent­wertet uns:

<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Die Anordnung, ‚überall jemand zu sein‘, erhält den pathologischen Zustand aufrecht, der diese Gesellschaft     notwendig macht. Die Anordnung, ‚stark zu sein‘, produziert so sehr die Schwäche, mit der sie sich
aufrechterhält, dass alles eine therapeutische Seite anzunehmen scheint, …“[1]

Es ist die Sprache der Werbung, die sich und uns verrät. Sie verführt nicht nur, son­dern fabuliert über gelingende Indivi­dualität in einer schön gefärbten Rhetorik der Selbst­ver­wirk­lichung, die kein Mentaltraining besser formulieren könnte: <em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Innovate, don’t imitate!“ „Folge dei­nem in­neren Kompass!“ „Immer frei, nie ziellos!“ sind nur einige Bei­spiele, die so tun, als ob mit Konsum ein sinnerfülltes eigenes Leben glückt. Die Botschaft lautet: wenn du schon das Leben, das du eigentlich haben möchtest, nicht führen kannst, dann kauf‘ dir jetzt wenigstens den Moment … Das al­lein ist aber nicht das Problem. Werbung als „Wunschvorzeigemaschine“ (R. Barthes) ani­miert und wird dafür Sprache bis an die seman­tische Schmerzgrenze strapazieren. Das Thema verschärft sich da­durch, dass viele andere Bilder in der Öffentlich­keit, die auch Orientierung bieten, an Relevanz ver­lieren bzw. ganz verschwinden. Ideale, die keinen öko­nomischen Erfolg ver­sprechen, werden als unnütze ‚Gutmenschart‘ verun­glimpft. Bildung ist kein er­strebens­wertes Ziel mehr, sondern es sind nur noch marktförmige Kom­petenzen ge­fragt. Künst­leri­sches Talent genügt nicht, es sei denn die Kreativität lässt sich kom­merziell ver­werten.

Offenheit für Neues reicht auch nicht mehr aus, sondern es wird ständige Anpas­sungs­­fähigkeit an sich verändernde Markt­bedingungen erwartet – allen Erfordernissen ge­mein­­sam ist, dass sie auf die individuelle Ebene herunter gebrochen sind. Wer sich so als Einzelner immer wieder dem Markt stellen muss, hört auf, die Ver­hält­nisse in Frage zu stellen. Die Wirtschaft bietet ja jede Menge Möglichkeiten, so der Tenor, doch das Indi­viduum steht dort ziemlich allein – und genau da tragen die trügerischen Bilder der Wer­bung, die so tun, als ob wir frei über uns entscheiden könnten. „Better your Best“ – der Wettbe­werb der ‚modularen Selbstunternehmer‘ (Mirowski) läuft auf allen Kanälen und vollen Touren. Keiner will unter die Räder kommen: Markt­förmige Selbstopti­mierung statt ge­sellschaft­licher Selbster­mächtigung.

Individualisierung, darauf hat der kürz­lich ver­storbene Soziologe U. Beck hinge­wiesen, wird so zum Austragungs­ort gesellschaftlicher Paradoxien, die durch die ein­seitige Trimmung auf den Markt hervorgerufen werden:

„Die Lebensbedingungen der In­dividuen werden ihnen selbst zugerechnet; und dies in einer Welt, die sich fast voll­ständig dem Zugriff der Individuen verschließt. Auf diese Weise wird das ‚eigene Leben‘ zur biographischen Lösung systemi­scher Wider­sprüche.“[2]

Aufklärung neu denken

Das System, bin ich geneigt zu ergänzen, hat ge­siegt: wir wollen nur noch uns, nicht länger die Verhältnisse ändern. Die politische Aufklärung kommt an ihr Ende, weil sich ihre emanzipatorische Programmatik erschöpft. Zwar haben wir uns aus der eigenen Unmündigkeit be­freit (Aufklärung 1.0) und gelernt, mit der „Dialektik der Aufklärung“ (Horckheimer / Adorno) umzugehen (2.0), aber die „Erfindung des Politi­schen“, welche die reflexive Moderne (Beck) neu zu beleben suchte, mündet in den Offenbarungseid der aktuellen Politik, nur noch zu administrieren, reformieren und novellieren, was eigentlich als ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>das Politische‘ ge­staltet werden müsste.

Was hat sich gedreht? In der reflexiven Moderne (Aufklärung 3.0) beugte sich das auf­geklärte Individuum über sich selbst, um erstaunt festzustellen, dass es sich im Plural denken kann, dann aber lernen muss, mit der eigenen Selbst­widersprüchlichkeit umzu­gehen, welche die individualisierte Gesellschaft im Einzelnen erzeugt. Am Ende der „gro­ßen Rah­men­­er­zählungen“ (Lyotard) bleiben kaum Leitbilder übrig, an denen sich das Individuum in seiner politischen und persönlichen Idee vom eigenen Leben aus­richten kann. Die marktkonforme Demo­kratie hat aus allem einen Wettbe­werb ge­macht, der nur pragmatisch, nicht ideologisch zu gewinnen ist. Wir haben Optionen, aber keine Überzeugungen mehr. Das fluide Ich bringt sich in jede ge­wünschte Form. Gelingendes Leben spiegelt sich im wirtschaft­lichen Erfolg wider und der Einzelne, der sich andere Ziele setzt, muss sich fragen lassen, ob er die Spielregeln verstanden hat. Wer es nicht schafft, sich auf dem Markt der Möglich­keiten zu be­haup­ten, wird gesell­schaftlich zur Randfigur, dem der eigene Individualisierungs­anspruch vor die Füße fällt.

Was wir jetzt brauchen, ist eine Aufklärung 4.0, um das vielheitsfähige Ich neu zu den­ken. Wir haben ein Leben zu führen, und diese Lebensführung verlangt uns einiges an Entscheidungen ab. Dafür ist weder das Ideal der philosophischen Aufklärung noch die optio­nale Vielfalt marktförmiger Lebensstile ein geeignetes Modell. Die Aufforderung, unser Leben zu ge­stalten, also Bürger, Konsumenten, Arbeiter und vieles mehr zu sein, hat sich seit dem „Pro­jekt der Moderne“ (Habermas) nicht geändert. Was anders ist, ist die Art und Wei­se, wie wir unser eigenes Leben überantwortet bekommen. Wir werden allein und uns selbst überlassen. Alles, was wir tun und wofür wir stehen, ist begrün­dungs­pflichtig. Nichts ergibt sich von selbst, nichts kann mehr entschuldigt werden mit der sozialen Herkunft oder fehlenden Chancen. Da wird es schwer, sich als Autor und Sub­jekt der eigenen Lebens­geschichte (Bieri) zu erzählen, wenn einem alles so zu­ge­rech­net wird, nur weil es prinzipiell verfügbar scheint. Wie kann dem­nach eine Auf­klärung 4.0 aus­sehen, in der das Indivi­duum in ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>einer Zeit der verlorenen Unschuld‘ (Eco) sinnvoll von sich sprechen kann?

Das System signalisiert uns über Körperkult, Arbeitsflow, Konsum­druck, Fitness- und Ernährungstipps, dass wir ständig an uns arbeiten müssen, nie zu­frieden sein dürfen, also uns nicht auf Augenhöhe befinden. Das neoliberale Ich ist nicht freier, aber jetzt spüren wir die Lücke deutlicher, weil alles um uns herum genau diese Freiheit (und sei es nur als Wahl) zu verkörpern scheint. Die Multioptions­gesellschaft schickt uns auf die Jagd nach dem eigenen Ich, so als ob es nur eine Frage wäre, welche optimierte Ver­sion unseres Selbst wir heute gerne darstellen möchten. Wahlfreiheit? – In Wirklichkeit stellt sich die Frage anders, nicht nach Opportunität.

Aufklärung auf Augenhöhe

Der Einzelne ist in Sorge um sich (Foucault) und möchte sich selbst ernst nehmen kön­nen (Frankfurt); d.h. sich nicht einfach so hinnehmen wie man eben ist. Menschliche Lebens­führung findet in dieser „Vertikalspannung“ (Sloterdijk) statt. Wir ‚Paradoxie­künstler‘ bemühen uns, in fließenden Grenzen und bei offenen Strukturen auf schwan­kendem Fundament etwas Ver­nünftiges zustande zu bringen. In der Auseinander­setzung mit sich selbst und an­deren, in der wir eigene Ziele haben und uns bewusst zu ändern suchen, liegt der Kern einer ‚Autonomie auf Augenhöhe‘. Wer auf Augenhöhe ist, hat eine Idee von der eige­nen Würde sowie ihren unveräußerlichen Rechten und besitzt die Möglichkeit, sich zu entscheiden. Die Pointe liegt darin, dass wir in diesem Bemühen immer wieder auch scheitern und neu anfangen.

Auf Augen­höhe mit den politischen Verhältnissen zu sein, be­deutet, sich nicht als Spiel­ball zu empfinden, sondern Spiel­räume wahrnehmen zu können. Eine Aufklärung 4.0 sieht das Indi­vi­duum in dieser Spannung, „sich bewegen, aber nicht bestim­men lassen zu wollen“ (Seel) und de­finiert Autonomie als das reflexive Eingeständnis in die eigene Selbstwider­sprüch­lich­keit, da wir politisch und persönlich viel wollen, aber oft nicht erreichen, was wir uns vornehmen. „Die politisch flexible Identität kämpft darum, als das anerkannt zu werden, was sie ist.“[3] Wir wollen spüren, dass wir unser Leben in der eigenen Hand haben, auch wenn wir wissen, nicht alles selbst beeinflussen und steuern zu können. Um ein starkes Bild zu wählen: wir wären gerne ‚Primzahl­men­schen‘ (A. Schmidt), ein unverfügbares Ich, das durch nichts als sich selbst teilbar ist.

<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>„Das moderne Individuum, das keine vorgegebene Ordnung mehr antrifft, braucht statt Emanzipation und Befreiung Kreativität und Selbsterfindung – ein ständiges Tasten im Ungefähren.“ (R. Leick in: Spiegel Online, 03.01.2015)

Den Selbstanspruch aber immer wieder neu zu formulieren, also auch auf Augen­höhe mit sich zu sein, zeichnet uns aus – und wir wollen in einer Gesellschaft leben, die uns diese Möglich­keiten, anders und besser zu werden, offen hält. Und das meint Anderes und mehr als zu konsumieren oder sich für die eigene Beschäftigungsfähigkeit weiter zu qualifizieren. Unsere widerständige Identität geht nicht auf in einer „<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>Funktion des Nützlichen“: Eigen­initiative ist mehr als Selbstunternehmertum; Selbstbewusstsein er­schöpft sich nicht in der Existenzgründung einer Ich-AG – und sein Leben verant­wort­lich organi­sieren zu können, be­inhaltet mehr als soziale und ökonomische Kom­petenz­profile eil­fertig zu erfüllen. Das gute Leben hat mit politischer Selbstbestimmung zu tun, auch wenn wir uns als Bürger in der täglichen Umsetzung widersprüchlich zeigen.

Die neue Aufklärung will politisch ermutigen und individuell wertschätzen, ohne zugleich wieder ein Ideal zu formu­lieren, das weder die Gesellschaft noch der Ein­zelne er­reichen kann. Das war gut gemeint, aber ein Fehler der Aufklärung 1.0, den wir nicht wiederholen sollten. Auf­klärung 4.0 ermöglicht das „Nein zur eigenen Wahrnehmung“ (Gebauer).

Wer diesen Satz politisch versteht, kann nur eine offene, pluralistische, demokratische und rechts­staatliche Ge­sellschaft von freien Bürgern meinen, weil alles andere diese Selbstwider­sprüch­lichkeit, die uns als Freiheit auszeich­net, verneint. Wir wollen uns aber nicht negieren lassen weder von den politischen noch den öko­nomischen Ver­hältnissen. Lasst uns auf jeden Fall über alles streiten, was diese ‚<em „mso-bidi-font-style:=““ normal“=““>neue Bürger­lichkeit‘ sein kann, will und soll, aber lasst sie uns auf keinen Fall mehr nehmen.

Stefan Wolf

Literatur:

Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011.
Beck, Ulrich: Die Erfindung des Politischen, Frankfurt a.M. 1993.
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2010.
Eco, Umberto: Nachschrift zur Name der Rose, München 1984.
Gebauer, A./Kiel-Dixon, U: Das Nein zur eigenen Wahrnehmung ermöglichen, in: Organi­sations­entwicklung Heft 3/2009, S. 40-49.
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, in: Kleine politische Schriften, Frankfurt a.M. 1981.
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004.
Frankfurt, Harry: Sich selbst ernst nehmen, Frankfurt a.M. 2007.
Lyotard, Jean Francois: Das postmoderne Wissen, Wien 1999.
Seel, Martin: Sich bestimmen lassen, Frankfurt a.M. 2002.
Sloterdijk, Peter: Du sollst dein Leben ändern, Frankfurt a.M. 2009.

[1] ) Unsichtbares Komitee: „Der kommende Aufstand“, Hamburg 2009, 12.
[2] ) Ulrich Beck: „Das Zeitalter des eigenen Lebens“, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (apuzg) B 29 / 2001, 12.
[3] ) Charim: „Der leere Ort“, in: SonnTAZ 18./19.10. 2014. Vgl. hierzu auch meinen Artikel in: www.forum-fuer-politik-und-kultur.de.

NACHRUF

18/1/2015

Das Denken entgrenzen
Der Soziologe Ulrich Beck ist viel zu früh gestorben„Risiko-Beck“ haben wir Studierende ihn in Bamberg Ende der 80er Jahre genannt; denn durch die „Risikogesellschaft“ (1986) ist er berühmt geworden. Bald danach ging er nach München an die LMU, war an der LSE in London und kongeniales Pendant zu A. Giddens für den III. Weg („New Labour“), also die Idee, wie am Ende der Moderne Politik neu gedacht werden könnte. Das blieb sein Thema: die „reflexive Modernisierung“ oder auch 2. Moderne, die lernen muss, mit den selbst erzeugten Gefährdungslagen, wie z.B. der Kernenergie, gesellschaftlich umsichtig umzugehen. Und dabei blieb er Optimist (E. Illouz) ohne jede politische Naivität, sondern mit dem klaren Blick des Sozialwissenschaftlers und dem wachen Geist des „public intellectuals“, dem es darum ging, Soziologie für die Gesellschaft zu machen. Anerkannt dafür mehr im Ausland als zu Hause lebte und lehrte er einen europäischen Kosmopolitismus als „Gegengift“ zu politischen, kulturellen oder regionalen Chauvinismen.

„Er sei stets vor der Bugwelle des Nachdenkens und uns immer ein Stück voraus gewesen“, resümiert R. Hitzler, Bamberger Weggefährte, und bringt das Denken Becks auf den Punkt. Es ging nicht nur um gesellschaftliche Entgrenzungen; d.h. um die neuen Formen der Arbeit, Liebe und Familie, um veränderte sozialen Lagen sowie prekäre Lebensentwürfe, sondern auch seine Antwort im Denken auf diesen Wandel war, sich selbst zu „entgrenzen“. Wenn die 2. Moderne neu gedacht werden muss, dann darf eine Soziologie auch nicht an ihren alten Begrifflichkeiten (‚Zombie-Kategorien‘) oder bestehenden disziplinären Grenzen (‚methodologischer Nationalismus‘) festhalten, sondern muss sich tastend vorwärts bewegen, sich neu erfinden, um Antworten auf eine sich rapide verändernde Welt zu geben. Eine „projektive Gesellschaftstheorie“ wollte er entwerfen, in der sich das eigene Leben der Individuen, das ganz anderen Herausforderungen ausgesetzt ist, einbetten lässt. Diese Offenheit und Vitalität steckte nicht nur in seinen Überlegungen, sondern auch bis zum Schluss in ihm. Nun ist er mit gerade mal 70 Jahren viel zu früh gestorben und nicht nur aus seinem Denken gerissen, sondern auch aus unserer Mitte. Seine politischen Einmischungen fehlen schon jetzt angesichts
einer öffentlichen Debatte um Integration, die zur Vernunft gerufen werden müsste. Jetzt ist es an uns, an seiner Stelle den gesellschaftlichen Dialog um die Ausgestaltung unserer Lebensbedingungen im 21. Jahrhundert zu führen und seine innovativen Ideen mit Leben zu füllen.

Zu dem Themenkomplex „Entgrenzungen – Soziologische Einmischungen“ wird eine Veranstaltung stattfinden:

Veranstaltungsort: imug Beratungsstelle
für sozial ökologische Innovationen,
Postkamp 14a, 30159 Hannover
Donnerstag 12. Februar 2015
Zeit: 19:00 Uhr

„Der leere Ort“ Zum paradoxen Lebensgefühl in der Postdemokratie

30/11/2014

Am Ende der Moderne

Begriffe haben ihre Zeit. Wortbedeutungen entstehen und vergehen. Das spüren wir alle am Ende der Moderne in besonderem Maß. Wir erleben, dass die Sprache einer ganzen Gene­ration, ja einer Epoche, verloren geht: uns kommt das Vokabular der politischen Auf­klärung abhanden, also jene Begriffe, wie ‚Gleichheit‘, ‚Selbstbestimmung‘, ‚Mündigkeit‘, ‚Teilhabe‘, die wir wie selbstverständlich in unser Selbstverständnis übernommen haben. Das „Projekt der Moderne“ (Habermas) verliert aber nicht nur deshalb an Bedeutung, weil es der Post­moderne gelungen ist, die großen Rahmenerzählungen zu dekonstruieren, sondern auch weil die Begriffe nicht an unser Lebensgefühl anschließen. Es ergibt keinen Sinn, wenn wir versuchen, sie mit unserer gegenwärtigen Lebenswelt zu verknüpfen. Wer den Be­griffen das Wort redet, wird entweder als naiver Gutmensch entlarvt, der nichts von der harten Realität kapiert, oder die Widersprüche zwischen politischem Ideal und täglichem Tun treten so offen zu Tage, dass sie nicht länger verhandelbar, also auch kaum aus­zuhalten sind. Der öffent­liche Diskurs kommt zum Erliegen.

Schließlich sorgt der letzte Schuss Pragmatismus dafür, dass wir uns in das Gegebene fügen und nur noch uns, aber nicht mehr die Verhältnisse ändern wollen. Dann schlägt die Stunde der Coaches und Selbstoptimierer (bis hin zum ‚Self-Tracking‘), die uns ver­sichern dass wir selbst schuld sind, wenn sich unser Leben nicht gut anfühlt und uns kaum etwas gelingt. Innenorientierung (Schulze) ist angesagt: Wenn wir das Ganze schon nicht ver­stehen, sollen wir wenigstens über uns ver­fügen. Dadurch verlagern sich die Konflikte, die eigentlich gesellschaftlich ausge­tragen werden müssten, ins Ich als dem „leeren Ort der Identität“.

C. Lefort hat die Demokratie als „leeren Ort der Macht“ bezeichnet und weist darauf hin, dass wir als politisch Teilhabende diese Leere mit gemeinsamen Werten füllen müssen. Eine frei­heitlich-demokratische Grundordnung rekurriert auf aufgeklärte Individuen, autonome Sub­jekte und mündige Bürger. Es gibt einen engen Bezug zwischen dieser Form von Demo­kratie und unserer Subjektivität, weil die politischen Freiheitsrechte erst jene Teilhabe er­möglichen, in der wir uns selbst verwirklichen können, also eine Identität bilden. Somit ist mit der Form, in der wir zusammenleben (wollen), auch die Form, wie jeder Einzelne von sich und über andere denkt, im Kern betroffen, weil wir das „zoon politikon“, das soziale Wesen sind. Individualität setzt Inklusion voraus und wird nur dadurch „adressierbar“.  

Fragil, fragmentiert, flexibel und fluid

Charim nennt im Artikel der TAZ vom 18./19.10.2014 drei kennzeichnende Begriffe für das neue Lebensgefühl in der Postdemokratie. Unsere Identitäten seien fragmen­tiert, flexibel und fluid – Adjektive, die schon Bauman („Li­quid Modernity“) in seiner Gegenwartsanalyse nennt. Ich füge noch „fragil“ hinzu und würde Parallelen zwischen politischer und persön­licher Lebens­form ziehen: Unsere politische Ord­nung ist fragil; d.h. sie steht auf keinem unumstöß­lichen Fundament, das nie wieder revan­chistisch revidiert werden könnte. Darauf hat auch Böckenförde hingewiesen: Die Demo­kratie fußt auf Voraus­setzun­gen, die sie selbst weder begründen noch gewährleisten kann. Wir müssen sie immer wieder neu wollen und dürfen sie nicht leichtfertig aufs Spiel setzen.

Diese Fragilität spüren wir auch in unserem eigenen Leben (Beck 2001), das sich als „sinn- und grundlos“ (Bolz) zeigt, weil sich keine erfahrbare Weltanschauung findet, aus der heraus sich alles logisch ent­wickeln und vernünftig erzählen lässt.  

Enttäuschende Zusammenhänge

Diese politische wie persönliche Erfahrung, dass alles aus gleich guten Grün­den auch ganz anders sein könnte, somit unbestimmt und offen ist, sorgt dafür, dass wir uns inzwischen lieber in einzelnen Kontexten aufhalten als in großen Zusammenhängen zu denken. Dadurch erleben wir sowohl die Gesellschaft als auch unsere eigenes Leben als fragmentiert. Lösun­gen, die in einem Mikrokosmos funktionieren, lassen sich nicht übertragen. Handlungs­weisen widersprechen sich, sobald wir einen Bereich verlassen – unsere multiple Persönlich­keit aber schwindelt sich über die Paradoxien hinweg oder hält sie einfach nicht aus und wech­selt das Wording. So haben wir kein Problem gegen die unmenschlichen Arbeits­bedingun­gen in der Textilbranche zu demon­strieren und dann für den Abend das günstige Outfit beim Discounter als „Schnäppchen“ zu kaufen. Wir protestieren gegen die Quälereien der Massentier­haltung, schaffen es aber nicht, nur noch einmal die Woche Fleisch zu essen.

Auf alles reagieren wir mit der sprichwörtlichen Flexibilität, die auch gesell­schaftlich in höch­stem Maß von uns gefordert wird. Nichts anderes bedeutet die Formel von der „Beschäfti­gungs­fähigkeit“, die es gilt immer und überall in der globalen Ökonomie auf­recht zu erhalten. Arbeits- und Konsumwelt wollen von uns diese schnelle Anpassung an sich verändernde Welten, in denen wir aber letztlich immer nur in einer Form antworten sol­len: marktförmig arbeiten und konsumieren. Auch der politische Pragmatismus ist an Flexi­bilität kaum noch zu überbieten. Die Demokratie droht unpolitisch (Walter 2013) zu werden. Kurzsichtige Lösun­gen als „permanente Novellierungstätigkeit“ (Ismayr 2010) werden favorisiert, nur um ein Thema abgearbeitet oder eine Klientel bedient zu wissen. Das Gemeinwohl gerät aus dem Blick, weil es sich politisch auch nicht mehr argumentieren lässt. In fragmentierten Welten, in denen wir es uns in einzelnen Kon­texten bequem gemacht haben, können Zusammenhänge nur enttäuschen – sie her­zustellen verlangt offenbar zu viel.

Flüssige Lebensform

Wenn Überforderung droht, braucht es fließende Grenzen in beweglichen Strukturen, in denen nichts, auch wir nicht, wirklich festzumachen ist. Fluides Lebensgefühl empfinden wir, wenn wir im Internet surfen, uns immer zum nächsten Link bewegen können und im globalen Netz virtuelle Kontakte knüpfen. Fluid ist somit die Quersumme aus fragil, frag­mentiert und flexibel. Da wir uns in keiner politischen Ordnung mehr verorten wollen, als Mit­glieder einer pluralistischen Gesellschaft eher den Dissenz leben und partikularen Interessen folgen, die unsere Ver­schiedenartigkeit betonen, ist eine fluide Identität die beste Antwort auf die Ver­hältnisse, weil wir glauben, so noch eine Option in Händen zu halten (indem wir uns an­passen und beweg­lich sind). Zwar haben wir gelernt, das Leben in der Postdemokratie (Crouch) zu nehmen, aber wir verstehen es nicht. Die Metapher von der Fußgängerzone, in der wir uns auskennen, aber nicht mehr wissen, wo wir sind, beschreibt unser paradoxes Lebensgefühl sehr gut: wir folgen leichtfüßig der Pragmatik des Einkaufsbummels, handeln nicht wirklich, sondern las­sen uns treiben, tun aber so, als könnten wir entscheiden und hätten die Wahl. Mit etwas um­gehen zu können, bedeutet nicht, dem auch gerecht zu werden. Fluide Politik in der Analogie ist dann auch nur noch opportunistische Moderation, die Luhmanns These von der „Legitimation durch Verfahren“ parodiert.

Am Ende eines gesellschaftlichen Fort­schrittsdenkens, das maß­geblich politisch geprägt war, bleibt eine marktförmige Demokratie, die der vollständigen Ökonomisierung des öffentlichen Lebens den Boden bereitet. Luhmann formulierte seine systemtheoretische These zur Moderne, nicht zur Postdemo­kratie. Die Frage ist, worauf sich legitimierte Ver­fahren beziehen, wenn die freiheitliche Grundordnung zwar nicht zur Disposition gestellt wurde, in ihren politischen Institutionen aber ausgehöhlt wirkt.

Öffentliche Diskurse rekurrieren immer noch auf jene Begriffe, ohne sich zu bemühen, sie zeitgemäß zu fassen. Wohin dies führt, erkennen wir daran, dass Thesen der Moderne keinen Sinn mehr ergeben: „Individualität ist die Form, die sich nicht fügt!“ So wider­ständig dieser Satz gemeint war und so politisch er auch klingen mag, so wenig wirklich ist er in un­serer postdemokratischen Gesellschaft; denn gegen welche Form soll der Ein­zelne noch opponieren? In einer Zeit, in der es kein abweichendes Verhalten mehr gibt und Anders­artigkeit die Norm zu werden scheint, weil alle Aus­nahme sein möchten und niemand mehr den Regeln folgen will, ist Individualität nicht mehr die Form, die sich nicht fügt, sondern nur noch die Form, die sich nicht füllt.

Bürgerlichkeit neu denken

Unser soziales Zusammenleben sagt mehr über unsere persönliche Identität aus als wir wahrhaben wollen. Mag es die aufklärerische Moderne übertrieben und uns überfordert haben, uns in allem zu politischen Akteuren zu machen, die am öffentlichen Leben aktiv teilhaben und bereit sind, jeden Dis­kurs zu führen. Unsere pluralistische Demokratie droht diese politische Substanz restlos aufzu­brauchen und zehrt nur noch von einem Voka­bular, dem die ge­sellschaftliche Wirklichkeit immer weniger entspricht. Ob wir wollen oder nicht – wir müssen wieder Bürger werden, wenn wir Individuen sein wollen. Wer sich in (bezahlter) Arbeit sowie (kurzsichtigem) Kon­sum erschöpft und weiter keine verbindenden, nachhaltigen Ideen für das Zusammenleben von Vielen ent­wickelt (oder adä­quat revitali­siert), muss er­kennen, dass wir die Unverfüg­barkeit un­serer eigenen Identität nicht bewahren können. Wir sollten wieder lernen politisch zu han­deln, ‚Citoyen‘ im besten Sinn des Wortes werden, wenn wir unsere Individualität entfalten wollen. Nur wenn wir alle meinen, kann jeder an sich selbst denken. Das füllt den leeren Ort.

Stefan Wolf

Baumann, Zygmunt: Flüchtige Moderne, Frankfurt a.M. 2003.
Beck, Ulrich: Eigenes Leben, Aus Politik und Zeitgeschichte, B 29/2001.
Böckenförde, Wolfgang: Die Entstehung des Staates als Vorgang der Säkularisation, 1967. Zitiert nach M. Ingenfeld, Das Wagnis der Freiheit, Vortragsmanuskript 2009.
Bolz, Norbert: Die Wirtschaft des Unsichtbaren, München 1999
Crouch, Colin: Postdemokratie, Frankfurt a.M. 2008
Habermas, Jürgen: Die Moderne – ein unvollendetes Projekt, Rede zur Adorno-Preisverleihung Frankfurt 1980.
Ismayr, Wolfgang: Der deutsche Bundestag, Wiesbaden 2012.
Luhmann, Niklas: Legitimation durch Verfahren, Frankfurt a.M. 1969.
Walter/Michelsen (Hg.): Unpolitische Demokratie, Frankfurt a.M. 2013.