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Schreiben was fehlt – ​Der Flüchtigkeit begegnen – zum Tod Zygmunt Baumans

Nun hat er am eigenen Leib erfahren müssen, wovon er als „menschliche Grundbefind­lichkeit“ ein Leben lang gesprochen hat: die Flüchtigkeit der Existenz. Mit 91 Jahren ist Zygmunt Bauman gestorben und hinterlässt uns ein ebenso philosophisches wie sozio­logisches Denken, mit dem wir die Welt eindeutig besser verstanden haben, auch wenn er uns mit zunehmenden Alter immer weniger Mut machte, dass es überhaupt „so etwas wie eine gute Ge­sellschaft“ geben könnte. Und wieder fehlt eine Stimme mehr jener Zeit­zeugen, die den Holo­caust miterlebt haben, auch wenn Bauman selbst nicht interniert war. Ausschwitz dürfe sich nie wiederholen, insistierte er mit Adorno, als ihm 1998 der gleichnamige Preis ver­liehen wurde.

„Postmodernes Bewusst­sein hat sich mit der Idee ausgesöhnt, dass das Durcheinander menschlicher Grundver­fasstheit für immer bleiben wird.“ Es sind die falschen Ver­sprechungen, die inneren Widersprüche sowie tie­fen Ab­gründe der Moderne, mit denen er sich zeitlebens beschäftigte und auch in meinem Versuch, die spätmoderne Gesell­schaft zu verstehen, fest ver­ankert hat. So habe ich mir „Wasted Life“ in der deutschen Über­setzung: ‚Verworfenes Leben‘ zu eigen gemacht. Das Wort meint mehr als ein Leben, das einfach nur ‚weggeworfen‘ wird. In ‚Verworfenheit‘ kommt ein nicht gerade verlaufener Lebensweg zum Aus­druck, aber auch nicht verwirk­lichte Lebensentwürfe, die – und dies ist das Besondere am Begriff – im gelebten Leben rekonstruierbar blei­ben, also auf­scheinen und erzählt werden können. Die Lebens­ge­schichte gerinnt zum Narrativ aus Ent­scheidungen und Unterlassungen, die zu dem führen, was wir ‚eigenes Leben‘ nennen. ‚Das Bedürfnis im Denken will aber, das gedacht wird‘ – mit diesen Wor­ten Adornos, die Bauman bei jener Preisverleihung zitierte, verwies er darauf, dass wir der ‚permanenten und nicht reduzier­baren Ungewissheit im Leben‘ nur sprachlich-reflexiv begegnen können: Reflek­tiertes Leben ist erzähltes Leben.

Und so geht es mir auch mit einer weiteren, für Bauman zentralen Metapher: „liquid modernity“; im Deutschen idiomatisch mit ‚flüchtiger Moderne‘ übersetzt. „Liquid“, wört­lich: ‚flüssig, zäh fließend‘ setzt sich als Bild in meinem Kopf fest, wenn ich gegenwärtige Ge­sellschaften beobachte. Da ist von fluider Autonomie ebenso die Rede wie von agilem Pragmatismus – die verflüssigende Form bezieht sich somit nicht nur auf soziale Ord­nungen oder gesellschaftliche Normen, sondern meint auch den Übergang ins Of­fene, ins Ungewisse, das „Ende aller Eindeutigkeit“, wie er es nannte. In dieser Hinsicht ist Bauman post­modern, weil er das Ende der großen Rahmenerzählungen (Lyotard) proklamierte und die Termini ‚Kon­tingenz‘, ‚Fragmentierung‘ und vor allem ‚Ambivalenz‘ im Mund führte, um die „next modernity“ zu beschreiben. Er hat die Mo­derne kritisiert und betont, dass uns keine große Idee, kein übergeordnetes Ziel und auch kein Kollektiv entlasten würde, in der Verwiesen­heit auf andere, um unser eigenes Leben zu führen. Soziale Interaktion sei ambi­valent, moralische Entscheidungen schwer zu treffen und noch schwerer zu verantworten. Davon zeugte auch die eigene Biographie, in der er nie leugnete, für die Kommunisten Spitzel gewesen zu sein und sich schuldig bekannte, ein­fach mitgemacht zu haben als ‚Preis zu über­leben‘.

Bauman blieb sich dieser individuellen Fehlbarkeit und Widersprüchlichkeit bewusst und baute die eigene Lebenserfahrung in seine gesellschaftstheoretischen Überlegungen mit ein. „Liquid“ meint ja auch, dass Struk­turen nicht mehr kristallin, also fest werden, son­dern beweglich bleiben. Sie sind dann nur von jenen zu ‚beugen‘, die die Mittel haben, darüber zu verfügen. Für alle anderen entwickelt sich die ‚flüchtige Moderne‘ zum Prob­lem: z.B. für die, die (gute) Arbeit suchen, sich ausgeschlossen fühlen, auf der Flucht oder ein­fach nur anders als die ‚Norm‘ sind und deswegen diskriminiert werden.

‚Postdemokratie‘ nennt Colin Crouch (2010) jene politische Ord­nung, die sich weniger am Gemeinwohl und mehr an Partikularinteressen der Mächtigen orientiert. Wenn Politik nicht mehr der Allgemeinheit dient, dann wird ‚Flüchtigkeit‘ zur Repression, Ausgren­zung und Ungleichheit, weil Vernunft in öffentlichen Diskursen diskreditiert wird und demo­kratische Rechte unterlaufen werden. Gegen diese privilegierten Machteliten blieb Bau­man unversöhn­lich im Denken und unermüdlich im Schreiben. Er sei ein Beobachter und habe nichts anderes gelernt, außerdem könne er seine Neugierde an gesellschaftlicher Entwicklung nicht einfach so ‚in Rente schicken‘, betonte er immer wieder – auch im hohen Alter.

Natürlich steckt da ein Schuss Kulturpessimismus drin und es kommt auch die moralische Haltung eines Menschen zum Tragen, der vieles erlebt und überlebt hat (er floh vor den Nazis in die Sowjetunion), aber die Verve, mit der er den gegenwärtigen Entwicklungen entgegen trat und der Ton, den er anschlug, um dem Zeitgeist die Leviten zu lesen, be­eindrucken mich nachhaltig. Es ist dieser Umgang mit Sprache, der mich berührt. Dieses Schneiden in Begriffe, um Bedeutungsreste an die Oberfläche unserer Wahrnehmung zu bringen. Bauman schreibt, was fehlt, auch wenn er es an der einen oder anderen Stelle an wissenschaftlicher Genauigkeit fehlen ließ. Seine Bücher sind keine Textbilder, die man sich an die Wand hängt, sondern Fenster, durch die Dinge sichtbar werden, die sonst unentdeckt blieben. So dringt er nachdrücklich in unser gegenwärtiges Lebens­gefühl ein, in dem wir es uns nur allzu gerne leichtfertig bequem machen, z.B. der eigene Konsum. Bauman war kein pauschaler Kapitalismuskritiker oder linker Systemdenker, aber wie sich aus scheinbar eigenständigen Kaufentscheidungen ein sozialer Zwang zum Konsum entwickelt, hat ihn intensiv beschäftigt.

Plötzlich bindet sich die gesellschaftliche Wertschätzung an den Konsum als wäre ein ‚Mitgliedsbeitrag‘ zu entrichten, um dazu zu gehören. Zu konsumieren wird oberste Bürgerpflicht und die Sprache der Werbung suggeriert, als hätten wir es selbst in der Hand. Dabei erhöht sich ständig der soziale Druck. Das ganze Spiel ist inzwischen so perfide, dass uns Bürgern Konsumverzicht negativ angerechnet wird. Wir hätten uns ja für die verjüngende Pflegeserie, die Krankenzusatzversicherung oder auch gesunde Ernährung entscheiden können und wären somit – aus Sicht der Wirtschaft – fitter, ge­sünder und vitaler, also ein besserer Teil der Gesellschaft. Wer sich dem Konsum entzieht bzw. nicht mitspielen kann, hat die Konsequenzen, immer weniger sichtbar zu werden, zu tragen: „Wo immer wir uns aufhalten, sind wir zumindest teilweise ‚dis­placed‘, am falschen Ort und fehl am Platz.“

Die freie Kaufentscheidung, die Option zu wählen, entwickelt sich zur Pflicht, wobei das Glücksversprechen systematisch gebrochen wird; denn nichts wäre schlimmer als ein wunschlos glücklicher Kunde. Nachtwey hat das in seinem jüngsten Buch „Die Abstiegs­gesellschaft“ auf den Punkt gebracht: Der Marktbürger ist kein Bürger mehr, sondern ein Kunde mit Rechten.

​Und selbst diese, so würde Bauman zornig ergänzen, sind wir bereit uns ‚abkaufen‘ zu lassen, wenn wir nicht aufpassen und unsere politische Existenz in Marktkonformität auf­geht. Da klingt das Wort der Kanzlerin von der „marktförmigen Demokratie“ noch nach. So wird – und das hat er luzide analysiert – der Individualismus zu einem gesellschaft­lichen Problem, weil es desintegrativ ist, wenn alle nur an sich denken. Es sind solche klugen Diagnosen, die nun fehlen werden. Auf seine professionelle Neugierde und präg­nanten Beobachtungen können wir nicht mehr zählen. Es liegt an uns, in seinem Sinne neugierig und wachsam zu bleiben, um unsere gefährdete Demokratie wieder mehr in Schutz zu nehmen und als wertvolles Gut zu achten. Das hätte er dann gerne noch beo­bachtet …

Über den Autor

Dr. Stefan Wolf

Jahrgang 1963, ist promovierter Philosoph und hat an der Uni Bamberg Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. 1995 kam er zur EXPO 2000 GmbH und hat im Themenpark und der Kommunikation für die Weltausstellung in Hannover gearbeitet. Nach Tätigkeiten für die Prognos AG in Basel und das Bildungshaus in Hannover ist er seit 2002 bei der Volkswagen AG. Anfangs war er verantwortlich für die AutoUni, die Corporate University des Konzerns. Inzwischen ist er in der Produktstrategie für VW Nutzfahrzeuge. Seit 2007 lehrt er Sozialwissenschaften und Zukunftsforschung am Institut für Transportation Design (ITD) der HBK in Braunschweig. Dr. Stefan Wolf Stefan.wolf@volkswagen.de

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