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Wir Hochstapler „Mach‘ Dich breit!“ – zum aktuell dominanten Lebensgefühl

„Du musst trinken, Narziss!
Nicht Dich bewundern.“
R. Char
Von Luhmann stammt die Paradoxie, dass wohl niemand, der auf die Gesellschaft blickt, sagen würde, dass man sich das so vorgestellt hat. Jedoch müssten wir zugeben, am ak­tuellen Lebens­gefühl und den gegenwärtigen Verhältnissen nicht ganz un­schuldig zu sein. Und so bleibt nur die leise Hoff­nung, dass ein Phänomen wie der jetzige amerikanische Präsident die letzte böse Pointe einer gesell­schaft­lichen Entwicklung ist, zu der wir alle – ob nun wissentlich oder nicht – bei­tragen: die Hoch­stapelei. Ja! – Ich behaupte, wir sind inzwischen alle zu Auf­schneidern und Hoch­staplern ge­worden und blasen unser Leben mit Superlativen auf, weil nie­mand mehr ein nor­males Leben führen will. Dann ist der Schritt nicht weit, dass Narzissten wie Donald Trump salon­fähig werden, obwohl ihnen nicht nur jegliches politisches Gespür, sondern auch jede demo­kratische Tugend fehlen. Wir alle, so lautet mein Vorwurf, haben dieses gesellschaft­liche Klima mit geschaffen, in dem ein „who the fuck first“  ge­deihen konnte, weil wir selbst schnell vorne mit dabei sind, ich­bezogene Er­wartungen zu formulieren und penibel darauf zu achten, uns vorteil­haft dar­zustel­len.

Hochstapelei fängt unscheinbar an, kaum bemerkt und mit langer Latenz, z.B. bei der Sprache. Es begann mit Berufs­be­zeich­nungen, die durch „Plastikwörter“ regelrecht aufgepeppt wur­den, ob­wohl sich an den eigent­lichen Aufgaben nichts geändert hatte; denn im Back Office (Hinter­zim­mer) wird immer noch jeder ein­zelne Hand­griff getätigt, zu dem sich der Chef zu fein ist und ein Key Account Manager ist eben auch nicht mehr als ein einfacher Verkäufer, der Klinken putzt. Ebenso wird die Hausmeistertätigkeit nicht allein dadurch besser, weil sie jetzt ‚Facility Manage­ment‘ heißt. Bei den Start-Ups wird im ‚Wording‘ noch eine Schippe drauf gelegt. Nie­mand ist mehr in einem normalen Arbeits­verhält­nis, sondern ein ‚Creative Director‘ und darf sich seine Aus­beutung zum Hunger­lohn mit begrifflich ausge­schmückten Be­zeich­nungen am kunter­bunten Kickertisch mit einem veganen Chai Latte versüßen – voll ‚intrinsisch moti­viert‘ ver­steht sich. So ‚faken‘ wir alle mit in und an dieser aufgesetzten Leistungsgesellschaft und feiern den schrulligen IT-Nerd schon als zu­künftigen CDO (‚Chief Digital Officer‘) …

Die Hochstapelei geht weiter mit Selbstvermarktungssprüchen, die jedem guten Mentalcoach die Schamesröte ins Gesicht treiben. Aber auch die eigene Ich-AG ist in der postfaktischen Arbeits­welt an­ge­kommen und optimiert sich, wo sie geht und steht. Da werden monstermäßige Berufe ver­sprochen, die sich dann hinter der PR-Fassade als stinknormale 9-to-5-Jobs erweisen („span­nende Challenges, abwechslungsreiche Tätigkeit: be agile“). Es wird auch vor dem einen oder anderen geistigen oder körperlichen Doping durch diverse ‚Enhancements‘ nicht Halt ge­macht, um marktförmig im Hamsterrad weiter produktiv sein zu können. Und schließlich ist da noch die Rhe­torik der Werbung, die sich nicht entblödet auch noch die tiefsten Niederungen der Sinn­sprüche aus Poesiealben auszuloten, um ihre Produkte an uns Konsumierende zu bringen. Ein­fache Bau­märkte entfalten sich zum Para­dies der Selbstgestaltung. Parfums prägen ganze Lebens­­stile (‚Innovate, don’t imitate!‘) und schnödes Bier bietet einen inneren Kompass für den Weg ins ei­gene Glück. Und warum zu „Vive le moment“ geraucht werden muss, erschließt sich nicht. Diese Sprache der ständigen Übertreibung nervt: nichts darf mehr einfach und schlicht sein, sondern ist fo­kussiert und auf das Wesent­liche verdichtet, von einer ganz eigenen Intensität. Merken wir überhaupt noch, was wir da verbal von uns geben?

Nun kommt der Einwand, dass wir alle klug genug sind, die leeren Versprechungen der Wer­bung zu durchschauen und uns als kritische Konsumenten eine eigene Meinung bilden können. Weit gefehlt! Die Wirklichkeit sieht anders aus. Auf der richtigen Suche nach uns selbst, sind wir offensichtlich mehrfach falsch abgebogen und in einer paradoxen, gesell­schaftlichen Situation gelandet, die – wie Luhmann richtig resümiert – eigentlich keiner wollte, in der aber trotzdem alle versuchen, irgendwie mitzumachen und zu­recht zu kom­men. Wir sind, so Schirrmacher, in einer Welt der „egoistischen Nutzenmaximierer“ ange­langt, weil das Narrativ des Erfolgs uns dies so einredet (und wir daran glauben wollen). Dann ist der Weg zu einer populistischen Weltan­schauung nicht mehr weit: wir stellen uns ich-süchtig an den An­fang und ins Zentrum – und da­nach kommt erst einmal lange nichts außer die eigenen An­sprüche. In einer solch kleingeistigen Nabel­schau kommt man sich dann auch selbst wieder „groß“ vor.

Nehmen wir das gegenwärtige Bild, das wir als Gesellschaft in den sozialen Medien abgeben. Dort ist Hoch­stapelei in Form aufpolierter Trugbilder an der Tagesordnung. Nicht nur, dass sich die Fotos der Selbstdarstellung gleichen und bestimmte Erfolgsmuster perpetuieren, son­dern jedes Bild setzt in Szene. Es wird eine Welt vorge­gaukelt, in der alle ausgesprochen hübsch, sexy, witzig und muskulös sind. Das ist zu schön, um wahr zu sein. Die weibliche Mager­sucht findet, so die SZ, ihr Pendant in der männ­lichen Muskelsucht. Es gilt um jeden Preis aufzufallen im Kampf um das knappe Gut ‚Aufmerksamkeit‘. Alle manipulieren und ver­suchen sich im besten Licht dar­zustellen. Da gerät die gelebte Wirk­lichkeit schnell aus dem Blick oder wird zu einem Problem, weil sie mit der eigenen Selbstwahrnehmung kaum Schritt hält.

Und so geht es weiter auf unseren Straßen. Hier ist der SUV die Hochstapelei im Verkehr. Es scheint nur um die Frage zu gehen, wer in dieser Blechhierarchie das größte Pferd hat. In un­seren dicken Kisten blähen wir uns auf, beanspruchen Raum, der uns nicht gehört (sondern allen) und sind gemeinsam mit unseren Fahrzeugen auf anabolen Steroiden: wir machen uns breit auf Kosten der an­deren, insbesondere jener Verkehrsbeteiligten, die ohne „Commander Position“ unterwegs sind. Das nehmen wir für unser souveränes Fahrgefühl in Kauf und thronen weiter selbstgefällig über dem Verkehr.

Letztes einprägsames Bild: der Konsum. In den Fußgängerzonen volle Tüten (oft noch Plastik). Wir stopfen uns die Taschen, um nach möglichst viel auszusehen, obwohl das ein­zelne Teil kaum großen Wert besitzt. Auch hier stapeln wir im wahrsten Sinn des Wortes hoch, packen Ein­kaufs­wägen in Supermärkten voll und schleppen nach Hause, was wir oft nicht be­nötigen (um es nicht selten wieder wegzuwerfen). Und es genügt ja auch nicht mehr, einfach gut zu essen und zu trin­ken, sondern dazu braucht es „Super Food“. Der Überfluss wird zur Schau gestellt, weil ein Bild nach außen er­zeugt werden soll. Und Image ist wichtig, wenn nicht sogar alles – auch hier zeigen sich die erschreckenden Parallelen zu Donald Trump, der immer noch so agiert, als wäre er in der Reality-Show. Trump ist die logische Konsequenz der schlechten Seiten der Post­moderne, ihrer Beliebigkeit und fehlenden Konsequenz, so E. Bronfen im Interview von AVENUE, einem neuen Magazin, das sich mit „Hochstapelei“ befasst. Tenor ist, dass wir zwar keine neue Stufe, aber ein erschreckendes Ausmaß des Phänomens erreicht haben.

Der Einzelne als Hochstapler ist eine prominente Sozialfigur. Jeder kennt den „Hauptmann von Köpenick“ und „Felix Krull“ aus der Literatur  – oder die geschönte Bio­graphie und den unrecht­mäßig erworbenen Doktortitel des einen oder anderen Promis aus dem echten Leben. Aber was bisher Einzeltaten waren, wird nun zum gesellschaftlichen Risiko: wenn alle vorgeben als etwas zu gelten, was sie nicht sind, und aus jedem Lebensplan eine Erfolgsgeschichte wer­den soll;

wenn man sich anmaßt, was Besseres zu sein und alles nach ‚mehr‘ aussehen muss, dann produziert eine Gemeinschaft zu viel Neid, Missgunst und Aus­grenzung, weil jeder nur noch engstirnig ein­klagt, was ihm vermeintlich zusteht: Willkommen in der Welt der Populisten, die vorgeben, ‚Identität und Inter­essen des Volkes‘  zu wahren. Es hat den An­schein, als ob – im öffentlichen Umgang miteinander – Bescheidenheit als Dummheit, Selbstkritik als Schwäche und Offenheit als Fehler betrachtet werden, die man sich nicht leisten darf.

Nun will ich abschließend nicht bestreiten, dass es schwer ist, im Konsumkapitalismus ehrlich bei sich selbst zu bleiben, zu verführerisch sind die Ablenkungen einer Sprach- und Bildkultur, in der wir uns alle größer machen können als wir sind. Aufschneiderei streichelt das eigene Ego und sorgt – auf den ersten Blick – für soziale An­erkennung. Ein ‚Stoff‘, so attestiert uns die Gehirn­forschung, nach dem man süchtig wird. Wie also können wir den kritischen Diskurs um Selbst­verwirklichung führen, ohne nur noch nach Selbstoptimierung im ökonomischen Sinn zu klingen? Ein erster Schritt wäre, den bloßen Verwertungszusammenhang, in den wir uns als kalkulierende Marktkonkurrenten manövriert haben, zu reflektieren und Maßstäbe zu finden, die über das Messbare hinaus­ führen.

Klar ist: Es ist eine schwierige, aber erlernbare Technik, mit sich selbst umzugehen. Jedes tiefere Nach­denken über die Frage: „Wer bin ich?“ endet früher oder später in iterativen Schleifen, in denen wir uns selbst nicht einholen können. ‚Per sonare‘ heißt zwar durch die sozialen Rollen und gesell­schaftlichen Funktionen hindurchklingen, aber die ‚dahinter‘ stehende Per­son kommt des­wegen nicht unbedingt zum Vorschein. Das macht es nicht leichter, sich mit sich selbst auszu­kennen, aber auch nicht unmöglich; denn die Frage nach dem eigenen Ich ist unab­weis­bar, wie P. Bieri betont. Die Sorge um sich hört nie auf, bleibt präsent und stellt sich immer wieder neu.

Wir sind außerdem viel zu sehr auf andere ausgelegt, als dass wir die Frage nach uns selbst al­leine beant­worten könnten: „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch.  Das bedeutet im Umkehrschluss, die Neigung zur Hochstapelei ist der Suche nach per­sönlicher Identität und in­divi­dueller Selbstbestimmung in­härent. Wir müssen ihr be­gegnen und antworten. R. Willemsen hat posthum ein kleines Manifest hinterlassen. Darin blickt er aus der Zukunft auf ‚unsere breite Gegenwart‘ und warnt: Wir stapeln hoch (und immer höher), wenn wir von uns selbst nicht auf­gehalten werden. Es ist höchste Zeit, dass wir uns nach allen demo­kra­tischen und sozialen Regeln des Mit­einanders wieder Grenzen setzen und Einhalt gebieten.

Stefan Wolf

Zitierte, verwendete und weiterführende Literatur:

AVENUE: Hochstapler*in, das Magazin für Wissenskultur, 01/2017; darin: Bronfen, Elisabeth im Interview, S. 13-22 und „Wir stapeln gegenseitig und voreinander hoch“  (Virchow/Kaiser, S. 3)
Bieri, Peter: Wie wollen wir leben? Salzburg 2011
Char, René: „Il fallait boire narcisse! Ne pas te mirer!“ , in:  „Le miroir des eaux“, Paris 1952
Foucault, Michel: Hermeneutik des Subjekts, Frankfurt a.M. 2004
Gumbrecht, Hans Ulrich: Unsere breite Gegenwart, Frankfurt a.M.  2010
Haller, Reinhard: Die Narzissmusfalle, 2013 (zit. n. SZ v. 11./12.2.17, S. 49)
Karafyllis, Nicole (Hg.): Das Leben führen, Berlin 2014, zum Thema ‚Techne‘, insbes. S. 15ff.
Luhmann Niklas: Beobachtungen der Moderne, Opladen 1992
Möbius, S./Schroer, M. (Hg.): Diven, Hacker, Spekulanten. Sozialfiguren der Gegenwart, Berlin 2010
Pörksen, Uwe: Plastikwörter. Die Sprache einer internationalen Diktatur, Stuttgart 2012 (7.Aufl.)
Das Buch erschien bereits 1988: „Die Gemeinsamkeit der Plastikwörter besteht in einem ungewöhnlichen Übergewicht des Konnotats (also der Assoziationen, Anm. d. Verf.) gegenüber einem im Grunde nicht mehr vorhandenen Denotat (das, was eigentlich bezeichnet werden soll, Anm. d. Verf.).“
Roth, Gerhard: Aus Sicht des Gehirns, Frankfurt a.M. 2009
Schirrmacher, Frank 2013, zitiert nach Hampe, M.: Die Lehren der Philosophie, Berlin 2014, S. 41. Ein weiterer Begriff, der dies illustriert, kommt von Sloterdijk, P.: Wir leben in einer Epoche der ‚Schadens­ersatzansprüche‘ … O. Nachtwey bezeichnet uns Bürger*innen in der „Abstiegsgesellschaft“ (Frankfurt a.M. 2016) als „Kunden mit Rechten“ (Umschlag)
Süddeutsche Zeitung (SZ): „Mach Dich breit!“ (Wochenendbeilage v. 18./19. 02. 2017)
Willemsen, Roger: Wer wir waren, Frankfurt a.M. 2016
„Wir waren jene, die wussten, aber nicht verstanden, voller Informationen, aber ohne Erkenntnis, randvoll mit Wissen, aber mager an Erfahrung. So gingen wir, von uns selbst nicht aufgehalten.“ (Zitat Umschlag)
Wolf, Stefan: Citoyen21 – der leere Ort. Eigene Lebensführung als kritische Masse, in: Ders./ Marquering, P. (Hg.): Unkritische Massen? Berlin 2016, S. 111 – 132, insbes. S. 119ff.

Über den Autor

Dr. Stefan Wolf

Jahrgang 1963, ist promovierter Philosoph und hat an der Uni Bamberg Sozialwissenschaften und Philosophie studiert. 1995 kam er zur EXPO 2000 GmbH und hat im Themenpark und der Kommunikation für die Weltausstellung in Hannover gearbeitet. Nach Tätigkeiten für die Prognos AG in Basel und das Bildungshaus in Hannover ist er seit 2002 bei der Volkswagen AG. Anfangs war er verantwortlich für die AutoUni, die Corporate University des Konzerns. Inzwischen ist er in der Produktstrategie für VW Nutzfahrzeuge. Seit 2007 lehrt er Sozialwissenschaften und Zukunftsforschung am Institut für Transportation Design (ITD) der HBK in Braunschweig. Dr. Stefan Wolf Stefan.wolf@volkswagen.de

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